Süddeutsche Zeitung

Roman:Adieu, Wintergarten

In "Das Vermächtnis der Seidenraupen" erzählt der Brasilianer Rafael Cardoso eine Geschichte, von der er selber lange nichts wusste - vom deutschen Kunstsammler Hugo Simon, seinem Urgroßvater.

Von Maike Albath

Es ist der Wunschtraum eines jeden Schriftstellers: In einem vergessenen Koffer tauchen Briefe, Dokumente und Fotografien auf, die eine ganze Epoche lebendig machen. Das Berlin der Weimarer Republik, Max Liebermann, Albert Einstein, Harry Graf Kessler, Heinrich Mann! Eine elegante Villa in der Drakestraße, wo jeder, der etwas Interessantes beizusteuern hat, zum Mittagessen willkommen ist. Ein Gutshof im brandenburgischen Seelow, auf dem fortschrittliche Methoden der Landwirtschaft erprobt werden. Und dann der Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts: Verfolgung und Vertreibung, Exil in Frankreich, die Emigration nach Brasilien.

Brasilien? Ja, es gab neben Stefan Zweig eine ganze Reihe illustrer Flüchtlinge zwischen Rio de Janeiro, Parati und Saõ Paulo. Hugo Simon heißt der Held dieser Geschichte, ein jüdischer Bankier aus Berlin, überzeugter Sozialist, kurze Zeit preußischer Finanzminister, außerdem Mäzen und einflussreicher Kunstsammler, voller Pläne und Tatendrang, unterstützt von seiner Frau Gertrud. Simon förderte George Grosz, Lyonel Feininger, Oskar Kokoschka und viele andere, war umschwärmt und sehr reich. Auf seinem Mustergut im sandigen Brandenburg führte er den preußischen Junkern vor, was sich anstellen ließ mit den vernachlässigten Ländereien.

Cardosos Vater starb, lange bevor der Sohn begann, Fragen nach der Familiengeschichte zu stellen

Doch 1933 zerstoben jäh alle Visionen. Die Simons flohen nach Frankreich, 1941 erreichten sie mit gefälschten Visa und Pässen Brasilien und galten fortan als Tschechen. Ihre ältere Tochter Ursula war mit ihrem Mann, dem Bildhauer Wolf Demeter, schon 1930 nach Paris gezogen; die Zweitgeborene Annette ging in Nizza zur Schule. Alle drei nahmen für die Flucht nach Brasilien eine französische Identität an.

Der brasilianische Schriftsteller Rafael Cardoso, 1964 in Rio de Janeiro als Enkel von Ursula Simon und Wolf Demeter geboren und in den USA aufgewachsen, wusste nichts von seiner deutschen Herkunft. Er kannte seinen Urgroßvater nur aus Familienanekdoten, seine Großeltern galten als Franzosen. Obwohl sie 1972 die deutsche Identität zurückerlangten, nannten sie sich weiterhin André und Renée Denis, auch die elegante Großtante hieß immer noch Malou. Über die Vergangenheit wurde beharrlich geschwiegen.

Als Kind liebte Cardoso die Ferien bei den Verwandten, wo man Scrabble spielte, viel las, und nachmittags bei Kaffee und Kuchen geistreiche Gespräche führte. Cardosos Vater Roger, Hugo Simons Enkel, 1931 in Paris geboren, starb mit nur 56 Jahren, lange bevor sein Sohn begann, Fragen zu stellen. Aus einem Impuls heraus rettete Rafael Cardoso bei der Haushaltsauflösung seiner Großeltern aus einer alten Mahagonikommode stapelweise Dokumente, in denen er zum ersten Mal auf die tatsächlichen Namen seiner Angehörigen stieß.

Einen großen Teil der Unterlagen konnte er nicht lesen. Sie landeten in einem Koffer und wurden vergessen. Erst als 1991 eine Exilforscherin bei ihm auftauchte, ihm erklärte, um wen es sich bei Hugo Simon handelte, suchte er nach dem Koffer und stellte ihn der Doktorandin zur Verfügung. Nun hat Cardoso selbst diesen Schatz gehoben. "Das Vermächtnis der Seidenraupen" nennt er seinen dickleibigen Roman.

Der Titel passt zu dem nie versiegenden Unternehmergeist Hugo Simons, der auf seine alten Tage in Curitiba noch eine Seidenraupenzucht gründete. Zugleich hat das Tier, das so beharrlich Fäden produziert, auch Eigenschaften, die zum Recherchieren gehören. Rafael Cardoso lernte Deutsch, las sich quer durch die Bibliotheken und forschte in Archiven. Sein Buch enthält ein umfangreiches Personenverzeichnis mit Kurzbiografien und eine Bibliografie mit weit über hundert Titeln. Von Kesslers Tagebüchern, Joseph Roths Feuilletons, Golo Manns "Erinnerungen und Gedanken", über Stefan Zweigs "Welt von gestern", Ernst Tollers "Eine Jugend in Deutschland", Peter Gays Darstellung der Weimarer Kulturelite und unveröffentlichten Tagebüchern des Journalisten Ernst Feder, einem engen Freund Stefan Zweigs in Rio, bis hin zu Forschungsarbeiten über die deutschsprachige Pariser Publizistik und die deutsche Emigration nach Brasilien fließt alles in Cardosos Roman ein. Allein diese Bibliografie ist eine regelrecte Fundgrube.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Für die brasilianische Literatur mag das eine Pioniertat sein. Für den deutschen Leser verhält sich die Sache etwas anders. Während die Figuren des Urgroßvaters Hugo Simon und die des Großvaters Wolf Demeter einem vor allem in der zweiten Hälfte des Romans näher rücken und man ihr Heimweh, ihre Fremdheit und ihre Ängste durchaus spürt, wirkt der erste Teil von "Das Vermächtnis der Seidenraupe" merkwürdig statisch.

Der Autor entscheidet sich für eine historische Rekonstruktion und fertigt Tableaus an, Momentaufnahmen von bestimmten Jahren, die für die Familie zu Umschlagpunkten wurden. Ein Mittagessen in der Drakestraße im Sommer 1930, ein Besuch im Varieté Wintergarten ein Jahr später, eine Sitzung oppositioneller Köpfe, ein Wochenende in Seelow. Die Perspektiven wechseln, mal schaut Gertrud auf das, was sich vor ihren Augen abspielt, mal Ursula oder Annette.

Das abgerissene Band zu den Vorfahren lässt sich nur mit Mühe wieder knüpfen

Im Verlauf des Romans hat man dann häufiger an Wolfs Innenleben teil, aber die meisten Episoden werden aus Hugos Blickwinkel geschildert. Während die Überfahrt nach Brasilien, die Ankunft dort und die verschiedenen Stationen zwischen Rio und Curitiba eine gewisse Spannung entfalten und Neues bieten, stellt sich am Anfang der Romans der Eindruck von Kulissenschieberei ein.

Das Ganze hat etwas von Staffage, und irgendwie sieht man dauernd die Kostümbildnerin und den Bühnentischler vorbei huschen. Die Mischung aus authentischem Personal und zwangsläufig erfundenen Dialogen und Innenschau wirkt immer wieder gekünstelt. So faszinierend das Schicksal der realen Simons ist, es hapert an einer erzählerischen Durchdringung, an ästhetischem Überschwang, die Erzählweise bleibt konventionell, die Sprache zu durchschnittlich.

Man muss Cardosos "Vermächtnis der Seidenraupen" gar nicht an Feuchtwangers "Der Teufel in Frankreich" oder Anna Seghers "Transit" messen. Auch dem Vergleich mit Ursula Krechels Migrationsromanen "Shanghai fern von wo" (2008) und "Landgericht" (2012) hält es nicht stand. Edmund De Waals Familienrecherche "Der Hase mit den Bernsteinaugen" (2014), die Cardoso als Inspiration nennt, ist ebenfalls sehr viel mitreißender.

Vielleicht hätte der Schriftsteller den Prozess seiner Annäherung an das Sujet, der in drei Intermezzi nur kurz aufscheint, ausführlicher darstellen sollen. Das emotionale Band zu den früheren Generaionen scheint durch Flucht und Vertreibung abgerissen und nur schwer neu zu knüpfen zu sein. Der dritte und letzte Teil, der immerhin beinahe die Hälfte des Romans einnimmt, entschädigt den Leser dann ein wenig. Hier endlich lodert Brasilien auf, hier spürt man, dass Rafael Cardoso vertrautes Terrain beschreitet. Die Aufzucht von Seidenraupen ist ein mühsames Unterfangen.

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Quelle:
SZ vom 17.01.2017
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