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Roma-und-Sinti-Philharmoniker:Musik gegen Klischees

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Der "Frankfurter Philharmonische Verein der Sinti und Roma" möchte durch seine Konzerte gegen das Vorurteil ankämpfen, dass "Roma pauschal kriminell" seien. Bei ihren jetzigen Auftritten zeigen sie gemeinsam, dass die Roma-Kultur absolut nichts mit "lustigem Zigeunerleben" zu tun hat.

Ronny Blaschke

In den letzten Minuten vor dem Konzert fragt sich Riccardo Sahiti, ob er in einem Traum ist. Er steht im verzierten Dirigentenzimmer des Rudolfinums in Prag, einem der wichtigsten Konzerthäuser Europas. Der Mann blickt auf die gerahmten Fotos seiner Idole, auf Karajan, Kleiber, Bernstein, und legt die rechte Hand auf das Klavier. Riccardo Sahiti ist 51 Jahre alt, doch er ist nervös wie ein Junge vor der Schulprüfung. Er schließt die Augen, geht die ersten Noten der Partitur durch. Seine Frau greift ihm über die Schulter und streicht sein schwarzes, volles Haar glatt. Ein Klopfen, jemand öffnet die schwere Holztür, hinein dringt das laute Stimmengewirr der Gäste. Sahiti nestelt an seinem Frack, gibt seiner Frau einen Kuss auf die Wange. Er muss auf die Bühne.

Riccardo Sahiti wird mit langem Applaus begrüßt, der Saal ist ausverkauft. Er geht ans Pult, schaut den Musikern in die Augen, er lächelt, und alle lächeln zurück. Fast auf den Tag vor zehn Jahren hat Sahiti die Roma-und-Sinti-Philharmoniker gegründet. Es war ein kleines Projekt zu Beginn, wurde kaum ernst genommen, doch nun steht Sahiti vor sechzig Musikern, sie stammen aus Deutschland, Rumänien, Ungarn. Die Mitglieder des Orchesters gehören einer Minderheit an, einige wurden als Zigeuner beschimpft, andere gemobbt. Im Rudolfinum spielt das Orchester fürs Publikum, für sich - und gegen Klischees.

Riccardo Sahiti ist in der Nähe von Pristina im Kosovo aufgewachsen. Seine Eltern waren wohlhabend, schenkten ihm ein Klavier, schickten ihn auf die Musikschule nach Belgrad. Er probte bis zu 15 Stunden am Tag, erhielt 1988 ein Stipendium in Moskau, vier Jahre später flüchtete er vor dem Kosovo-Krieg nach Frankfurt. Er bewarb sich bei Orchestern um eine Anstellung. Immer wieder bekam er Absagen. Der Direktor einer Musikschule sagte ihm einmal: "Sie haben großes Talent, aber Sie passen nicht zu uns." Sahiti fragte, ob die Abweisung mit seiner Roma-Herkunft zu tun habe, eine Antwort erhielt er nicht. "Vielleicht wäre es mir mit einer deutschen oder amerikanischen Staatsbürgerschaft leichter ergangen."

Anfang des Jahrtausends schuf Riccardo Sahiti dann seine eigene Form des Protests. Er wusste, dass Sinti und Roma in großen Orchestern vertreten sind, in der Wiener Staatsoper, im MDR-Sinfonieorchester in Leipzig, im Nationalorchester Rumäniens. Er lud Musiker ein, die andere Musiker einluden. Vor den Proben ließ er sie in seiner Wohnung übernachten, zwischen Plattensammlung und Konzertplakaten, sie diskutierten bis in die Nacht. Tagsüber verteilten sie Flugblätter. Und dann, nach Monaten der Planung, gaben die Roma-und-Sinti-Philharmoniker im November 2002 in Frankfurt ihr erstes Konzert. Niemand bat um eine Gage. "Der Saal war voll, die Leute kamen tatsächlich wegen uns." Sahiti spricht mit brüchiger Stimme, er unterdrückt seine Tränen. Er musste sich lange mit Jobs durchschlagen, durch das Roma-Orchester fand er seine berufliche Erfüllung, wenn auch nicht seine finanzielle.

Viele Musiker verschweigen ihre Herkunft, aus Angst vor Vorurteilen

"So verlieren wir uns nicht aus den Augen", sagt der Geiger Johann Spiegelberg, Mitglied der ersten Stunde. Spiegelberg hat eine jüdische Mutter und einen Vater mit Roma-Wurzeln, seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. "Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht, ich muss auch an meinen Sohn denken." Spiegelberg ist in Rumänien aufgewachsen, am Schwarzen Meer, er hat eine hervorragende Ausbildung genossen. Seit zwei Jahrzehnten lebt und musiziert er in einer ostdeutschen Großstadt. Hin und wieder lassen ihn Menschen spüren, dass er woanders herkommt. Neulich fuhr er nach einem Konzert, noch im Frack, mit seinem Mercedes zur Tankstelle; zwei Jugendliche musterten ihn und riefen: "In Deutschland lässt es sich gut leben auf unsere Kosten." Spiegelberg ließ sich nicht provozieren.

"Mit diesem Orchester können wir zeigen, dass Roma nicht pauschal kriminell sind", sagt Johann Spiegelberg, auch wenn ihm das zuwider ist. Bekannte Sinti und Roma wie die Sängerin Marianne Rosenberg, der Jazzmusiker Django Reinhardt oder der Dirigent Riccardo Sahiti werden von Politikern als Leitfiguren herausgestellt. Doch viele Musiker verschweigen laut Spiegelberg trotzdem ihre Herkunft, aus Angst vor Vorurteilen. Aus Angst, noch mehr leisten zu müssen, in Vorspielen, Proben, Konzerten. Da geht es ihnen nicht anders als Arbeitern, Akademikern, Sportlern. In Prag hatten es die Organisatoren schwer, Kontrabässe für die Roma-Philharmoniker zu leihen. Die Verleih-Unternehmen fürchteten, sie würden die Instrumente nicht wieder sehen.

Am Abend vor dem Konzert in Prag treffen sich einige Orchester-Mitglieder im Foyer des Hotels. Sie vergleichen ihre Instrumente, sie singen, lachen, zitieren Beethoven oder Schubert. "Wie auf einer Klassenfahrt", sagt Riccardo Sahiti und lacht sein kehliges Lachen. Er ist freundlich, neugierig, ein bisschen chaotisch, er sagt, einen Konkurrenzkampf wie in den Heimatorchestern gebe es hier nicht. "Wir wollen unser kulturelles Erbe weitertragen", sagt Sahiti.

Mehr als achtzig Opern sind von Roma inspiriert worden. Die jüdische Klezmermusik, der andalusische Flamenco, die kubanische Rumba sind von Roma beeinflusst worden. Trotzdem wird ihre Kultur oft auf den feurigen Stehgeiger oder die Opernfigur Carmen reduziert. Und trotzdem gibt es in Deutschland keine staatliche Einrichtung für Musik und Literatur der Roma, auch nicht für ihre Sprache Romanes. Erst seit 1997 sind Sinti und Roma hierzulande als nationale Minderheit anerkannt. Die Philharmoniker sind das einzige Orchester dieser Art.

In Prag führen die Philharmoniker das "Auschwitz-Requiem" auf, eine gewaltige Totenmesse mit Chor und vier Solisten, komponiert von Roger Moreno, einem Schweizer Sinto. "Dieses Werk hat viel Kraft gekostet", sagt Moreno. "Manchmal wundere ich mich, dass ich es fertig stellen konnte." Als Schüler war er als "Stink-Zigeuner" beschimpft worden, als Musiker blieben ihm viele Türen verschlossen, er gründete mit seiner Frau ein traditionelles Musik-Ensemble. Bei seinem ersten Besuch 1998 in Auschwitz beschloss er, den Opfern des Holocaust ein "lebendes Denkmal" zu setzen. "Wenige Menschen wissen, dass 500 000 Sinti und Roma von den Nazis ermordet wurden", sagt Moreno. Er komponierte sechs der acht Sätze seines Requiems, dann fand er keinen Zugang mehr, war "blockiert". Zehn Jahre später schloss er die Arbeit ab.

Sich bei den Mächtigen Gehör verschaffen

Die Roma-Philharmoniker haben das Requiem im vergangenen Mai in Amsterdam uraufgeführt, während der jährlichen Gedenkfeier zum Kriegsende. Nie zuvor standen Roma in den Niederlanden so im Mittelpunkt. Demnächst trifft Roger Moreno Königin Beatrix zum Kaffee. Er will sich bei den Mächtigen Gehör verschaffen. Durch Musik. Er möchte die Öffentlichkeit nutzen, um Bildungsdefizite und Asylrecht für Roma ansprechen. An diesem Mittwoch führen die Philharmoniker das Auschwitz-Requiem in der Alten Oper in Frankfurt auf, die Finanzierung steht. Ende Januar möchten sie in Krakau auftreten, vielleicht auch in der Berliner Philharmonie. Vieles ist improvisiert. Das Orchester hat keinen festen Proberaum, keine Geschäftsstelle. Riccardo Sahiti träumt von einem Musikverein, mit Chor, Ballett, Kulturcampus. Noch fehlen die Mittel.

Allein das Konzert in Prag kostet 100 000 Euro, ermöglicht wird es durch europäische Förderer und tschechische Aktivisten. Die meisten der etwa 1000 Plätze im Rudolfinum gingen kostenlos an Initiativen gegen Diskriminierung, an Politiker, Stiftungen, deren Partner. Das gewöhnliche Konzertpublikum ist kaum vertreten. Die tschechischen Medien haben vorab viel über die Roma-Philharmoniker berichtet, sagt Jitka Jurková aus dem Organisationsteam: "Doch die politische Botschaft ist kaum transportiert worden. Sie wurden wie immer als Exoten dargestellt." Sie glaubt, dass sich an der Roma-Feindlichkeit, am sogenannten Antiziganismus, wenig ändern wird.

Am Abend während des Konzertes ist das alles kein Thema. Riccardo Sahiti breitet seine Arme aus, Schweiß perlt von seiner Stirn. Er arbeitet, er genießt. Das Requiem endet mit leisen Glockenschlägen, langsam lässt Sahiti seinen Arm sinken. Der Applaus dauert fast eine Viertelstunde. Später am Abend steht Sahiti allein auf der Bühne und blickt ehrfürchtig auf die riesige Orgel. Am nächsten Morgen will das Orchester weiter zum Konzert nach Budapest reisen, in Ungarn sind Roma oft Opfer von Gewalt. "Das war erst der Anfang", sagt Sahiti. Dann sammelt er die Notenblätter ein, die seine Kollegen vergessen haben.

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Quelle:
SZ vom 27.11.2012
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