Süddeutsche Zeitung

"Roma" im Kino:Eine Ode an die Frauen

  • "Roma" ist ein persönliches Filmepos, das im Mexico City der frühen Siebziger spielt.
  • Alfonso Cuarón schildert seine Kindheit aus der Sicht der Erwachsenen, die ihn damals umgaben.
  • Die Inszenierung ist überwältigend, die Bilder brennen sich ins Zuschauergedächtnis.
  • "Roma" läuft von Donnerstag an im Kino.

Von Annett Scheffel

Wie erinnert man sich an seine Kindheit? Und wie können diese Kindheitserinnerungen in einem Film Gestalt annehmen? Der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón sucht in seinem neuen Werk Antworten auf diese Fragen. "Roma" ist ein sehr persönliches, intimes Filmepos, für das der Oscarpreisträger ("Gravity") zum ersten Mal seit seiner Tragikomödie "Y Tu Mamá También" (2001) den Blick zurück auf sein Heimatland richtet. "Roma" ist auf spanisch gedreht und mit unbekannten Schauspielern besetzt. Es ist Cuaróns Blick zurück in die Welt seiner Kindheit.

Die spielt im Mexico City der frühen Siebziger, gezeigt in ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern. Colonia Roma heißt die titelgebende Nachbarschaft, in der die Eltern mit ihren vier Kindern leben. In einem der Kinderzimmer des Hauses hängt noch das Poster der Fußballweltmeisterschaft 1970 in Mexiko. Draußen schrubbt das Hausmädchen den gekachelten Hof, auf dem der Familienhund Borras als Running Gag ständig seine Häufchen hinterlässt. Und abends kehrt der Vater - ein viel beschäftigter Arzt - mit dem Ford Galaxy heim, dessen Motorhaube so breit ist, dass die Ankunft von einer so fanatischen wie albernen Einparkchoreografie in der Hofeinfahrt bestimmt wird. Ein komfortables, leicht chaotisches Mittelschichtsleben, das bald ein paar inneren wie äußeren Erschütterungen standhalten muss.

Weil Alfonso Cuarón schon länger zu den großen Autorenfilmern des Kinos gehört - in einer Reihe mit François Truffaut, Federico Fellini oder Ingmar Bergman - liegen auch die Verbindungen zu deren stark autobiografischen Filmen auf der Hand. "Roma" ist in gewisser Weise seine Variante von "Sie küssten und sie schlugen ihn", sein "Vitelloni" oder sein "Fanny und Alexander".

Cuacón berichtet von privaten und von politischen Erschütterungen

Aber der Film ist auf den zweiten Blick auch etwas ganz anderes. Vielleicht, weil man, wie Balzac gesagt hat, zweimal lebt, das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung, und weil beides nicht unbedingt das Gleiche sein muss, hat sich Cuarón entschieden, sich selbst bloß zu einer Nebenfigur zu machen. Er erzählt nicht aus seiner kindlichen Sicht, sondern aus der Perspektive der Erwachsenen, welche die tobenden Geschwister umsorgen und sich nebenher um ihre eigenen Probleme kümmern müssen. Der Vater verabschiedet sich auf Geschäftsreise und kehrt nicht mehr zurück. Und als das Hausmädchen Cleo, aus deren Sicht der Film hauptsächlich erzählt, ungewollt schwanger wird, macht sich ihr Freund sofort aus dem Staub.

Dass über "Roma" schon vor dem Kinostart am Donnerstag viel gesprochen wurde, liegt auch daran, dass der Streaming-Dienst Netflix den Film produziert hat. In Cannes scheiterte die Firma deswegen an den Festivalregularien und konnte das Werk dort nicht zeigen; beim Festival in Venedig gewann es dagegen den Goldenen Löwen. Dass Netflix den Film neben ein paar ausgewählten Kinos trotzdem vor allem für die Ausspielung auf seiner digitalen Plattform vorgesehen hat, wo er bereits ab dem 14. Dezember zu sehen ist, sorgte bei manchen Kinobetreibern und Filmliebhabern für Verärgerung, die sich eine stärkere Bekenntnis zum Kino gewünscht hätten.

Was man auch verstehen kann, denn "Roma" ist zweifellos für die große Leinwand gemacht. Nach und nach erscheint in wunderschönen Kamerafahrten ein kunstvolles Panorama der inneren und äußeren Dynamiken dieser mexikanischen Kindheit. Silbern schimmert das Licht auf den weißen Laken auf den Hausdächern. Genau wie auf den von Seifenwasser umspülten Fliesen, die Cuarón für seine grandiose Eröffnungsszene zeigt und über die er das Spiegelbild einer dröhnenden Passagiermaschine ziehen lässt wie den fernen Traum von einem anderen Leben. Die Inszenierung ist so überwältigend, dass sich diese Bilder ins Zuschauergedächtnis brennen, wie wohl einst beim kleinen Alfonso. Fast hat man während der langen Streifzüge durch das Haus und die Straßen das Gefühl, das Rauschen der Zeit zu hören. Dieses leise, aber unbeirrte Fortschreiten des Lebens, das vergangene Momente mit den darauffolgenden verknüpft.

Das Schönste an "Roma" ist aber, dass Alfonso Cuarón der episodischen Natur unserer Erinnerungen treu geblieben ist und seinen Film weniger um eine große Handlung als um Situationen herum gebaut hat. Die windschiefe Blaskapelle, die die Straße heruntermarschiert. Die Kinobesuche, bei denen man einmal zwei im All schwebenden Astronauten aus John Sturges' "Verschollen im Weltraum" sieht. Die hochschwangere Cleo gerät beängstigend nah in das "Corpus-Christi"-Massaker hinein, bei dem 1971 mehr als hundert protestierende Studenten getötet wurden. Cuarón erzählt nicht nur von privaten, sondern auch von politischen Erschütterungen.

Zusammengehalten wird die Familie in dieser Zeit vor allem von der Hausherrin Sofía und dem indigenen Hausmädchen Cleo. Zwei Frauen, getrennt durch Klassenunterschiede, aber verbunden in der liebevollen Bemühung um die Kinder und dem Stoizismus, mit dem sie durch den Tag gehen. Yalitza Aparicio spielt das Hausmädchen in ihrer ersten Filmrolle mit einer berührenden Mischung aus Untergebenheit und Wärme. Die Kamera folgt der Frau, die sich unermüdlich um Haushalt, Essen, Wäsche und Einkäufe kümmert und für die als Mixtekin ohne Schulbildung kein anderer Platz als das Bedienstetenzimmer vorgesehen ist.

Und so ist "Roma" auch und vor allem Cuaróns Ode an die Frauen, die Mutter und das Hausmädchen, die seine Kindheit geprägt und seine Erinnerungen geformt haben. Zwei starke Frauen, die jede auf ihre Weise einsam sind und trotzdem - oder gerade deswegen - zusammenhalten.

Roma, MEX/USA 2018 - Regie, Buch, Kamera und Schnitt: Alfonso Cuarón. Mit: Yalitza Aparicio, Marina de Tavira, Nancy Garcia. Netflix, 135 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 06.12.2018/cag
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