Rolling Stones:Stuck und Säulen

Im Jahr 1971 waren die Rolling Stones praktisch pleite: Auf der Flucht nach Südfrankreich nahmen sie in einer prunkvollen Villa ihr Album "Exile on Main Street" auf. Die Geschichte eines Sommers.

Andrian Kreye

Die Auserwählten, die dabei waren, erinnern sich noch heute an das Licht, das hinter der Villa Nellcôte aufs Mittelmeer fiel. "Morgens konnte es sanft und lieblich sein, wie geschmolzene Butter, doch bis zum späten Nachmittag wurde es grell wie geschmolzener Stahl, das die endlose Weite des azurblauen Ozeans hinter dem Haus in eine Schale schimmernder kubistischer Fragmente verwandelte, die im Auge schmerzten", schrieb der Schriftsteller Robert Greenfield. Der blumige Satz bringt den Sommer der Rolling Stones an der Côte d'Azur auf den Punkt, der heute als Schlüsselmoment der Rockgeschichte verklärt wird.

Mick Jagger

Halbnackte Musiker zwischen ihren Instrumenten, so muss es im Sommer 1971 in Südfrankreich ausgesehen haben. Dieses Foto aber zeigt Mick Jagger im Jahr 1968.

(Foto: AP)

Keith Richards und sein Freundin Anita Pallenberg hatten die prächtige 16-Zimmer-Villa aus dem 19. Jahrhundert gemietet, die von Zypressen und Palmen verborgen mit ihren Marmortreppen, Flügeltüren und Zimmerfluchten in Villefranche-sur-Mer am Strand stand. Mick Jagger und seine zukünftige Ehefrau Bianca hatten sich in St. Tropez eingemietet. Die übrigen Musiker verteilten sich in Häuser über die Küste.

Die Rolling Stones waren auf der Flucht in diesem Sommer des Jahres 1971. Wie so viele britische Rockstars waren sie zwischen die Mühlen der englischen Steuergesetzgebung geraten. Ginger Baker hatte sich damals nach Nigeria abgesetzt, David Bowie in die Schweiz, John Lennon nach New York. Neunzig Prozent wollte der Staat von ihren Gagen und Tantiemen abziehen. Rückwirkend. Die Stones waren in diesem Sommer de facto pleite.

Sie standen aber auch in der Pflicht, ein neues Album aufzunehmen. Lange hatten sie an der Côte d'Azur gesucht, doch nirgends gab es ein Studio, das eine Produktion wie ein Stones-Album hätte stemmen können. So ließen sie ein mobiles Aufnahmestudio aus England kommen, das sie im Garten der Villa parkten, und verkabelten die verschachtelten Kellerräume. Dort unten in der düsteren, dumpfen Schwüle spielten sie mit einer wechselnden Besetzung befreundeter Musiker ein Doppelalbum ein, das heute als eine der fünf wichtigsten Rockplatten aller Zeiten gilt.

"Exile on Main Street" ist eines jener Alben, das jene Erweckungserlebnisse auslösen kann, von denen Leute sprechen, wenn sie davon erzählen, wie sie zum ersten Mal "Sergeant Pepper" von den Beatles, "Dark Side of the Moon" von Pink Floyd oder "OK Computer" von Radiohead hörten. Es ist diese schockartige Einsicht, dass es Musik geben kann, die das eigene Lebensgefühl und alle großen Fragen auf wenige Minuten verdichten kann. Bruce Springsteen hat immer wieder gesagt, dass "Exile" sein Leben verändert habe. Und wenn man seine Musik durch die Jahre verfolgt, dann weiß man, dass das stimmt.

"Exile" ist nicht unbedingt das beste Album, das die Stones je aufgenommen haben. Doch es steht für viel mehr, als nur für die achtzehn Songs, die es aus den vielen Stunden Material auf die vier Plattenseiten schafften. Mindestens so wichtig wie die Musik waren die Bilder, die aus diesem Sommer blieben. Es sind Bilder, auf denen die Stones und ihre Musiker halbnackt zwischen Instrumenten herumlungern, zwischen Flaschen, abgegessenen Tellern und Obstschalen, und das alles vor der überladenen Stuck- und Säulenkulisse der Villa. Die leicht benommene Trägheit des Sommers gerät in den Fotografien von Dominique Tarlé und den Hobbyfilmaufnahmen der Musiker und ihrer Freunde zum paradiesischen Schwebezustand.

Cocksucker Blues

Es sind aber auch die Aufnahmen, die der Schweizer Fotograf Robert Frank von der US-Tour im darauffolgenden Jahr machte, die Szenen, in denen die Stones im Taumel zwischen Drogen, Tourstress und einem bis dahin für Rockmusiker unerhörten Erfolg Musik spielen, die streckenweise so rudimentär und ungeplant klingt wie ein Bluesjam und dann wieder so opulent und exaltiert wie eine Operette.

Kreischende Groupies, kein T-Shirt

"Cocksucker Blues" funktionierte ähnlich wie sein legendärer Fotoband "The Americans", der die Melancholie des amerikanischen Traums entlarvte. Frank zeigte nun die Langeweile und die schäbige Dekadenz einer solchen Tournee. Da sitzen irgendwelche Trittbrettfahrer auf einem Hotelbett und setzen sich Spritzen. Während die Stones im Privatjet der Band benommen auf Percussion-Instrumenten herumklopfen, reißen die Roadies kreischenden Groupies die T-Shirts vom Leib. Das war die Antithese zum Glamour des Rock, der sich in dieser Zeit von der idealistischen Subkultur zum abgekochten Entertainmentgeschäft wandelte. Die Stones wollten nie, dass dieser Film gezeigt wird. Bis heute darf er nur vorgeführt werden, wenn Robert Frank persönlich ihn zeigen will.

Ein ganzer Schub von diese Material kommt nun zum Sommer wieder auf den Markt. Da ist eine restaurierte Version des Doppelalbums mit zehn bisher unveröffentlichten Songs. Da ist die Deluxe-Ausgabe im Schuber mit Vinylbeigaben, einem Fotoband mit Tarlés Bildern und einer DVD, die Ausschnitte aus drei Filmen zeigt, die in dieser Zeit gedreht wurden. Ein Ausschnitt aus Stephen Kijaks "Stones in Exile", der nächste Woche auch auf DVD erscheinen wird. Ein wenig aus Rollin Binzers "Ladies and Gentlemen, the Rolling Stones". Gute zehn Minuten aus "Cocksucker Blues" sind dort zu sehen. Es sind nur leise Ahnungen vom Original. Man sieht den angeödeten Richards beim Kartenspielen, wie er einen Fernseher durch ein Hotelzimmer schleppt und ihn matt über die Balustrade des Balkons in die Tiefe stürzt, die Band im Jet, die Obszönitäten dezent entfernt.

Verlorene Jugend, verlorene Liebe

Und doch packen diese Filme, Fotos und Aufnahmen eine solche Unmenge von Sehnsüchten übereinander, die nicht weniger sind, als die Quintessenz des Pop. Denn das wahre und einzige Leitmotiv des Pop ist die Nostalgie, die Suche nach der verlorenen Jugend, der verlorenen Liebe, der verlorenen Identität.

Heute verklären wir den Sommer von 1971 als einen Sommer der unbegrenzten Freiheiten. Die Dekadenz und die Genialität, mit der die Stones in der prunkvollen Villa dem Blues auf der Spur waren, verkörpert heute den Traum von einem Leben, das gerade in seiner Zügellosigkeit die großen Werke hervorbringt. In der Musik der Stones findet sich aber eine viel größere Nostalgie. Die Bonus-CD mit den unveröffentlichten Stücken ist sicher eine der besten Stonesplatte aller Zeiten. Songs wie "Pass The Wine" oder "Plundered My Soul" sind so grandios wie "Tumbling Dice" oder "Shake Your Hips". Sie ist aber auch ein entlarvendes Dokument. In den Versuchen Country, Blues und Gospel in den Griff zu bekommen, spiegelt sich die Sehnsucht der Nachkriegsgeneration, der öden Bequemlichkeit ihrer goldenen Jugend zu entkommen und etwas Wahrhaftiges zu finden. Was eignete sich dafür besser, als die Folklore der Vertriebenen und Verschleppten Amerikas. Und doch bleiben die Stones gerade in den schlichten Momenten so ungelenk wie unbeholfen. Richtig gut sind sie meist nur in ihren überarrangierten Momenten der Dekadenz. Aus gutem Grund.

1971 hatten diese Nostalgien ihre Unschuld schon eingebüßt. Der Rock hatte in den vorhergehenden Monaten mit Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison drei seiner ganz Großen verloren. Watergate, Vietnam und die grassierende Drogenpest hatten die Jugend in einen Zustand der Verwirrung gestürzt. Robert Frank hatte bei den Stones eine tiefere Wahrheit gefunden. Eine Wahrheit, die Robert Greenfield später ausformulierte. Der nannte sein Buch über die Zeit in der Villa Nellcôte "Ein höllischer Sommer mit den Rolling Stones".

Denn über der Freiheit und dem Genie lag in diesem Sommer schon der Schatten der Verzweiflung.

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