Rolle der Literatur:Stört die Kunst nur?

Das Münchner Literaturfest hinterfragt in Zeiten der Anschläge und der Flucht die Möglichkeiten und den Zweck von Fiktion.

Von Kathleen Hildebrand

Für manche Beobachtungen braucht man wahrscheinlich einen DJ. Einen, der es gewohnt ist, in Menschenmengen minimale Stimmungsschwankungen zu erkennen und auf sie zu reagieren. Um zu entscheiden, ob der Beat nun wieder schneller oder langsamer werden muss, damit niemand die Tanzfläche verlässt. "Haben Sie gemerkt, was passiert ist, als Sie sagten, dass die Deutschen von nun an mit sehr vielen Syrern zusammen leben werden?", fragte Mohamed Safi, Musiker - und eben DJ - aus Kairo den Moderator Claudius Seidl, Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. "Da gab es einen group shuffle hier im Saal." Einen Wechsel von einer Pobacke auf die andere, ein Aufrichten, ein Verschränken der Arme. Eine kleine Welle der Unruhe, des Unbehagens.

Und das, obwohl bei dieser Diskussionsveranstaltung des Münchner Literaturfests natürlich eher kein Pegida-Publikum anwesend war. In den lichten Saal im Obergeschoss des Literaturhauses war das liberale, das aufgeschlossene, wohlsituierte Bürgertum derjenigen Stadt gekommen, die im Spätsommer viele gerührt hat mit ihrem herzlichen Willkommen für die ankommenden Flüchtlinge am Hauptbahnhof. Trotzdem: ein group shuffle. Und: eine Woche nach den Attentaten von Paris viele nervöse Schulterblicke, wann immer die Tür im Rücken des hochkonzentrierten Publikums sich während der Veranstaltung öffnete.

Das Münchner Literaturfest lässt jedes Jahr einen Schriftsteller eine Reihe von Veranstaltungen kuratieren. "Forum: autoren" heißt diese Reihe, und der Schriftsteller oder die Schriftstellerin ist in der Gestaltung maximal frei. Nach der fröhlich chaotischen Ego-Show von Clemens Meyer im vergangenen Jahr, der mehrere Abende hintereinander seine Künstler-Freunde zu sich auf die Bühne holte, zog sich Albert Ostermaier, Kurator 2015, geradezu bescheiden zurück. Auch im Herzstück seines Programms, dem Symposium über Flucht und den Umgang von Kunst und Politik mit ihr, überließ er das Podium ganz und gar anderen: geflüchteten Autoren, nichtgeflüchteten Autoren, die über Geflüchtete schreiben, Menschen, die den Angekommenen helfen, und Experten für die Politik hinter der Flucht.

Der diesjährige Kurator, Albert Ostermaier, zog sich bescheiden zurück

Claudius Seidl musste zu Beginn erst einmal die Frage stellen, die momentan wohl bei jedem Gespräch über Kunst im Raum steht: Soll man, wenn überall Menschen sterben, überhaupt über Kunst sprechen? Oder stört das nur? Gibt es nicht drängendere Fragen? Oder können die Künste helfen, das Thema besser zu verstehen? Ja, sagte der junge Autor Ayman Sikseck, arabischer Israeli, dessen Roman "Reise nach Jerusalem" 2012 erschienen ist: Nach einer Nachricht in der Zeitung über Ertrunkene im Mittelmeer oder Opfer eines Attentats sei man vielleicht einen Tag lang schockiert. Nach einer Weile aber vergesse man sie. Literatur hingegen "lässt das nicht zu".

Wer eine Erzählung, einen Roman, ein Gedicht lese, der könne sich nicht lösen von einem Thema. Weil die Fiktion uns einem fremden Leben so nah bringt, wie sonst nichts. Was einen Menschen dazu bringt, seine Heimat zu verlassen und mit seinen Kindern in ein unsicheres Boot zu klettern, das vielleicht nie am anderen Ufer ankommen wird: Das sei eigentlich unmöglich zu verstehen für jemanden, der im Frieden lebt. Literatur aber mache das möglich: auch solche Menschen zu verstehen, die uns sonst unverständlich bleiben. Die Dokumentarfilmerin und Autorin Julia Benkert sah das ähnlich: In komplexen, brutalen Situationen wie dem Bürgerkrieg in Nepal, über den sie einen Roman geschrieben hat, könnten nur sehr persönliche, fiktionale Geschichten verständlich machen, wie unmöglich es oft ist, zwischen den "Guten" und den "Bösen" zu unterscheiden.

Es sei ein wichtiger Schritt, sich selbst besser kennen zu lernen, betonte Martin Roth, Direktor des vielleicht britischsten aller Museen, des Victoria and Albert Museum in London. Er selbst sei, am Dialekt deutlich erkennbar, Schwabe - aber eben zur Hälfte auch Niederbayer und erinnere sich noch gut, wie man in seinem Dorf über die Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen habe. Eine globale Schatzkammer wie das Victoria and Albert Museum sei dazu angetan, dass man anhand von Kunstwerken und anderen Objekten, fremden wie eigenen, über das "Ich" und das "Wir" nachdenke - und wie offen beide nach allen Seiten hin sind. Ein solcher Ort sei so wichtig, sagte Roth, dass er mittlerweile nicht mehr so überzeugt davon sei wie früher, dass man Museumsobjekte in jedem Fall an ihr Herkunftsland zurückzugeben habe. Gerade in Zeiten, in denen Kunstwerke nicht überall auf der Welt vor Zerstörung geschützt seien.

Was das Verständnis der anderen, der ganz und gar Fremden angehe, sei für ihn anders als bei den Grausamkeiten der RAF, des Faschismus oder der chinesischen Kulturrevolution auch mit sehr viel Mühe nicht mehr nachvollziehbar, was in Terroristen wie denen von Paris vorgehe. Ein Roman über einen Terroristen, entgegnete Julia Benkert, würde aber wohl auch das schaffen: das Unbegreifliche verständlich machen, "denn auch das wird von Menschen getan".

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