Vor ein paar Jahren machte das Gerücht die Runde, das erfolgreichste Stück der Nachkriegszeit habe der KGB verfasst und der Autor sei nur ein Strohmann gewesen. Fundamentalisten aller Länder glaubten das sofort, denn die Kränkung wirkte fort, die Rolf Hochhuth 1963 durch seinen "Stellvertreter" nicht nur der katholischen Kirche zugefügt hatte. Kaltherzig habe es Papst Pius XII. unterlassen, sich für die verfolgten Juden einzusetzen, lautete der Vorwurf, er habe feig geschwiegen, als sie 1943 aus Rom nach Auschwitz deportiert wurden.
Das war mehr als Majestätsbeleidigung, der "Stellvertreter" und sein Schöpfer lästerten die heiligsten Werte der Nation. Schließlich hatte der Protestant Thomas Mann lustvoll geschildert, wie er vor diesem Papst die Knie beugen und den Ring küssen durfte. Der Katholik Reinhold Schneider tat es mit mehr Beherrschung, erlebte aber einen "Lichtstrahl", der von jenem Pius XII. ausging. "Hinter ihm düsterte die Nacht." Der Dokumentarist Hochhuth zitierte aus einem Brief, den Ernst von Weizsäcker, der deutsche Botschafter beim Vatikan, 1943 ans Auswärtige Amt nach Berlin geschrieben hatte: "Der Papst hat sich, obwohl dem Vernehmen nach von verschiedenen Seiten bestürmt, zu keiner demonstrativen Äußerung gegen den Abtransport der Juden hinreißen lassen." Weizsäcker fügte hinzu, dass damit die "für das deutsch-vatikanische Verhältnis unangenehme Frage liquidiert" sei.
Das Schweigen des Papstes schloss das Schweigen über die deutschen Untaten ein. Hochhuth wollte Pius gar nicht als Antisemiten sehen, er konnte ihm aber sein Schweigen nicht verzeihen, weil es so bezeichnend war für das Schweigen der Nachkriegszeit. Der junge Gewissenserforscher war auf Schiller aus, er wollte das Theater als moralische und Belehranstalt, in der die großen Fragen stellt wurden. Jahre vor dem viel befabelten 1968 und zeitgleich mit den Auschwitzprozessen sollte die Vergangenheit nicht vergangen sein, sondern vor die Scheinwerfer. Weit weg vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, von jedem halbwegs intellektuellen Zentrum der noch so jungen Bundesrepublik nahm ein unbekannter Verlagslektor in Gütersloh die Literatur ernst.
Er wusste, dass er seinen frühen Ruhm nie wieder würde einholen können
Rolf Hochhuth stammte noch aus der alten Welt, aus dem Land der Dichter und Denker. Er betreute den Bertelsmann-Lesering und las sich dafür durch die Literatur des Jahrhundertanfangs (er nannte sie die "zweite Klassik"), druckte Otto Flake wieder, propagierte Keyserling und auch den eher dubiosen Wilhelm von Scholz. Seinen größten Erfolg erzielte er mit Wilhelm Busch, mit einem Hausbuch der Verse, die der scheidende Bundespräsident Theodor Heuss in bewährter Bonhomie einleitete. Der dankbare Verleger Reinhard Mohn spendierte seinem ertragreichen Mitarbeiter einen dreimonatigen Arbeitsurlaub in Rom, wo er zwar kein Archiv von innen sah, aber die passenden Informanten fand.
Mohn, der schließlich überwiegend fromme Werke verlegte, wollte den "Stellvertreter" auf keinen Fall in seinem Hause. So kam das Manuskript zu Rowohlt und ging an den eben aus dem Exil zurückgekehrten Erwin Piscator, der die theatralischen Qualitäten erkannte, das unförmige "christliche Trauerspiel" aber auf die Hälfte zusammenstrich. (Dieser Redaktionsarbeit fiel die erste Erwähnung von Zwangsarbeitern in einem deutschen Stück zum Opfer.) "Der Stellvertreter" erlebte seine Premiere in den letzten Monaten der Adenauer-Globke-Herrschaft in Berlin und wurde dank der allseitigen Empörung bald weltweit gespielt. Der New Yorker Kardinal Francis Spellman, ein Freund des inkriminierten Papstes, agitierte gegen die Aufführung, aber Hannah Arendt ging ins amerikanische Fernsehen, um dem Autor beizustehen. Karl Jaspers warb für den Autodidakten, der auch ohne Abitur mehr Geschichtsbewusstsein zeigte als die amtierenden Historiker und Politiker. "Hochhuth verlangt von uns: offen zu sein, Fragen ganz ernst zu nehmen, und zwar angesichts Gottes, der Transzendenz." Jaspers nahm den 33-Jährigen, der inzwischen weltberühmt war, vorübergehend sogar als cand. phil. in Basel an. Hochhuth hat auch dann nicht studiert, sondern weitergeschrieben, immer weiter. So wurde er der neben Günter Wallraff wirkungsvollste Schriftsteller Deutschlands, der Ausnahmeautor, der mit dem Schreiben tatsächlich etwas erreicht hat.
Dass er seinen frühen Ruhm nie wieder würde einholen können, wusste Hochhuth, doch ließ ihn seine journalistische Empörungsbereitschaft weiter von Aufreger zu Aufreger springen. "Soldaten" (1967) war ein Stück über die Bombardierung der deutschen Städte mit der nicht belegten Behauptung, der englische Premier Winston Churchill habe den polnischen Ministerpräsidenten Sikorski abstürzen lassen, um für Stalin den Weg frei zu machen. Sir Laurence Olivier wollte das Stück am National Theatre aufführen lassen, die königliche Zensur schritt ein, es erging ein Haftbefehl gegen Hochhuth - welcher Schriftsteller der westlichen Welt könnte auf ein ähnliches Ruhmesblatt verweisen?
Er wollte gehört werden, verlässlich versorgte er sein Publikum mit offenen Briefen
Ludwig Erhard nobilitierte ihn, als er, ganz amtserfüllter Professor, vom "ganz kleinen Pinscher" sprach, weil Hochhuth 1965 in der Marktwirtschaftspolitik des Kanzlers nichts Soziales erkennen konnte. Ein Nachfolger, Helmut Kohl war es, meinte sich noch Jahrzehnte später bei einem Vatikanbesuch für den "Stellvertreter" entschuldigen zu müssen. Doch schon Pius' Nachfolger Johannes XXIII. soll gesagt haben: "Gegen die Wahrheit ist nichts auszurichten."
Hochhuths größter Erfolg aber war der Sturz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger. Als Marinerichter, so erfuhr Hochhuth bei seinen Recherchen zu der Erzählung "Eine Liebe in Deutschland", hatte das NSDAP-Mitglied Filbinger im Fall des fahnenflüchtigen Matrosen Walter Gröger auf die Todesstrafe gedrängt und bei der Exekution acht Wochen vor Kriegsende 1945 persönlich den Schießbefehl gegeben. Sogar noch nach der Kapitulation hatte er gegen einen Kriegsgefangenen, der sich das Hakenkreuz abgerissen hatte, sechs Monate Freiheitsstrafe wegen "Gesinnungsverfalls" verhängt. Filbinger wehrte sich lange gegen die Vorwürfe, musste aber 1978 zurücktreten, nachdem er sich mit dem Satz "Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein" mitläufertypisch verharmlost hatte. Die CDU freilich hielt zu ihrem Senior und ließ Filbinger als Mitglied der Bundesversammlung noch bis 2004 den Bundespräsidenten mitwählen.
Der Schillerkragen blieb stets weit offen. In "Wessis in Weimar" bewerfen sich die Juraprofessorin und der "Präsident" mit Goethe-, Voltaire- und Burckhardt-Zitaten, und ohne das große Vorbild geht es auch hier nicht: "Schillers Geßler nahm den Schweizern den Zehnten, Sie berauben die DDR-Deutschen um neunzig Prozent!" Die Rächerin der enterbten DDR schmettert noch dazu: "Sie werden daran sterben!" Der "Präsident" war unschwer als Detlev Karsten Rohwedder zu erkennen, Chef der Treuhand, der 1991 von der RAF ermordet wurde, und natürlich darf bei Hochhuth geschossen werden. Einar Schleef inszenierte die Uraufführung 1993 in seiner gewohnt militaristischen Art; Hochhuth tobte, er erwartete unbedingte Texttreue, versuchte es vergeblich mit Verbieten, aber wenigstens hatte er wieder eine Sensation. So wird man leicht vom Aufklärer zur Skandalnudel.
Das öffentliche Auftreten Hochhuths geriet dann oft dramatischer als seine Stücke. Er versuchte sich auch an Komödien. Inge Meysel spielte seine "Hebamme" und verhinderte, dass das Stück über die Wohnungsnot in der Bundesrepublik ausschließlich vom Papier der Statistiken raschelte. Wieder tragisch sollte der "Tod eines Jägers" ausschlagen, ein fußnotenstarker Monolog des lebenswunden Ernest Hemingway, dargeboten von Curd Jürgens und Bernhard Wicki bei den Salzburger Festspielen 1977.
Der große Pathetiker lieferte sein eigenes schillerfernes Narrenspiel, als er, selber ein Wiedervereinigungsgewinnler, das Theater am Schiffbauerdamm, in dem Brechts Berliner Ensemble mustergültige Brecht-Aufführungen inszeniert hatte, von einem jüdischen Vorbesitzer erwarb und die Immobilie 1996 in die eilends gegründete, nach seiner Mutter benannte Ilse-Holzapfel-Stiftung einbrachte. Hochhuth wurde damit Besitzer des Theaters, der sich vertraglich ausbedingen konnte, dass dort seine immer weniger dramatischen Werke aufgeführt würden. Der Intendant Claus Peymann, als Streithansl kaum weniger begabt, sperrte dem Immobilienbesitzer Hochhuth das Tor zu, sodass sein anderes Ich vor der Presse beredte Klage über das Unrecht führen konnte, das dem Autor Hochhuth widerfuhr.
Ja, er war laut, er wollte gehört, gesehen, gelesen werden. Verlässlich versorgte er sein Publikum mit offenen Briefen, prangerte vergangenes, verdrängtes und gegenwärtiges Unrecht an und betonte immer wieder, dass es ihm um den "Menschen inmitten der Geschichte" gehe. Nicht anders als seine Figuren jonglierte er im Gespräch mit Goethe-Versen, mit mehr oder weniger großen Namen von Otto von Bismarck über Golo Mann bis zu David Irving. Bis zuletzt schleudert er dutzendfach Gedichte, die sonst jedem, der die siebzehn überstanden hat, peinlich sein würden, von sich und verschickte sie gern auch an Redaktionen: über den trotz allem verehrten Churchill, über Bismarck, über Reich-Ranicki, über die Kunst überhaupt und dazwischen allerlei herrenwitzig Erotisches.
Und doch. Der laute Hochhuth machte das, was Politiker, Dichter, Historiker, Journalisten versäumt hatten: Er brachte das Unsägliche zur Sprache und zum Ausdruck. Nach dem "Stellvertreter" konnte nicht mehr geschwiegen werden. Dazu gehörte auch sein hartnäckiger Einsatz für Georg Elser, "einsamster in seinem Volk, das, wie sonst Bier nur/und Geschlechtsverkehr, den Führer liebt". Es war ihm eine persönliche Genugtuung, dass das Denkmal für den Hitler-Attentäter, für das er zwanzig Jahre gekämpft hatte, dann 2011 gleich in der Nähe seiner Berliner Wohnung aufgestellt wurde. So hingeschlenzt seine Gelegenheitsgedichte oft waren, hier hat er nicht nur die poetische, sondern die historische Wahrheit getroffen: "Das Volk liebt zwar die Freiheit - doch nicht jene,/die starben, um es zu befreien." Jetzt ist der Aufklärer Rolf Hochhuth im Alter von 89 Jahren in Berlin gestorben.