Roger Ballen:Du bist, was du siehst

Der Albtraum ist real: Roger Ballen hat in Südafrika die vermeintliche weiße Herrenrasse fotografiert. Er zeigt sie als durch Isolation und Inzucht deformierte und debil gewordene Unterschicht.

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Roger Ballen

Quelle: Roger Ballen

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Der Albtraum ist real: Roger Ballen hat in Südafrika die vermeintliche weiße Herrenrasse fotografiert. Er zeigt sie als durch Isolation und Inzucht deformierte und debil gewordene Unterschicht.

Dieses Bild ist eine Unverschämtheit. Es ist ohne Respekt, es stellt die Zwillinge bloß, und weil sie offensichtlich geistig behindert sind, wissen sie vermutlich auch nicht, was der Fotograf mit ihnen gemacht hat: Er hat sie irgendwo in einem Dorf im Hinterland von Transvaal entdeckt und vor die Mauer ihres Hauses gestellt. Dann hat er sie mit seiner Mittelformatkamera abgelichtet.

Wer dieses Foto sieht, wird den Anblick nicht mehr vergessen: den starren Blick der Männer, die fast im rechten Winkel abstehenden Ohren, die wulstigen Lippen, aus denen Speichelfäden rinnen, die Frisuren, die wie Felle auf ihren Köpfen liegen, die Hälse, die breiter sind als ihre verformten Gesichter, und die Hemden, von denen eines schmutzig, eines weiß ist, aber beide große, feuchte Speichelflecken haben.

Dresie and Casie, twins, Western Transvaal, 1993, aus der Serie: Platteland

Text: Michael Bitala/SZ vom 12.11.2010/sueddeutsche.de/kar

Alle Abbildungen aus: Roger Ballen, Fotografie 1968-2009 im Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, bis 27. Februar.

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Dass Roger Ballen nach der Veröffentlichung, in den Endtagen des weißen Rassistenregimes in Südafrika, mit dem Tod bedroht und aus der Künstlervereinigung des Landes rausgeworfen wurde, spricht für die enorme Provokation, die in diesem Bild steckt.

Das Bild der Zwillinge "Dresie and Casie" gehört zu den Fotografien, die Roger Ballen berühmt gemacht haben. Sie zeigen die vermeintliche weiße Herrenrasse als durch Isolation und Inzucht deformierte und debil gewordene Unterschicht. Mit einer Vielzahl von Aufnahmen hat er weiße Landbewohner, Arme, Alte, Kranke, in Südafrika porträtiert.

Blown up boy, East Malaysia, 1976, aus der Serie: Boyhood

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Der in New York geborene Künstler, der seit den siebziger Jahren in Johannesburg lebt, fuhr damals übers Land, fotografierte zunächst die Architektur der Dörfer, in denen die Weißen weit weg vom Rest der Welt lebten, und irgendwann, so erzählt er, "bin ich an die Eingangstür eines Hauses gegangen, habe geklopft und die Bewohner gefragt, ob ich auch drinnen fotografieren darf". Dabei entstanden diese albtraumhaften Aufnahmen, die nicht nur heute noch beklemmend sind, sondern eben auch massive Entrüstung in Südafrika ausgelöst haben. "Je mehr sich die Menschen empört haben", sagt Roger Ballen, "desto mehr wusste ich, dass diese Bilder wahr sind."

Cut loose, 2005, aus der Serie: Boarding House

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Damals gehörte es zum Wesen der Fotografie, dass man ihr glaubte, was sie zeigt. Es gab noch keine digitale Bildbearbeitung. Dabei gelang es Roger Ballen schon in den sechziger Jahren, als er in New York mit dem Fotografieren begann, Aufnahmen zu machen, die wie surreale und auch groteske Gemälde wirken. Da läuft ein Mann scheinbar in der Luft durch die Straße, da sieht man einen Jungen vor Mauern, die so groß und gigantisch wirken, als wären sie eine Theaterkulisse.

Man holding cat, 1995, aus der Serie: Outland

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Auch diese frühen Werke sind von nun an in einer umfassenden Werkschau im Münchner Stadtmuseum zu sehen, und damit - wie auch mehrere spätere Exponate - zum ersten Mal überhaupt in einer Ausstellung. Gerade weil es so viele chronologisch geordnete Fotografien sind, fällt es leicht, die Entwicklung des 60-jährigen Künstlers nachzuvollziehen. Er hat weder eine formale Fotoausbildung noch fühlt er sich irgendeiner Schule oder Stilrichtung verpflichtet.

Perpetrator, 2003, aus der Serie: Shadow Chamber

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Da seine Mutter für die Fotoagentur Magnum arbeitete, und Roger Ballen somit schon als Kind Kontakt hatte zu Fotolegenden wie André Kertész, Paul Strand, Bruce Davidson oder Henri Cartier-Bresson, begann auch er mit 13 Jahren, die Welt abzulichten. Dass er dies lange Zeit nur als Hobby betrachtete, zeigt seine Biographie. Er studiert Psychologie in Berkley, geht mehrere Jahre auf Weltreise und absolviert danach noch mal ein Studium in Amerika: Geologie - was ihn schließlich nach Südafrika bringt, wo er für große Minenkonzerne das Land nach Rohstoffen absucht. Dabei entdeckt er auch die "Dorps", die Dörfer der Weißen.

Letting go, Ceylon, 1976, aus der Serie: Boyhood

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Auch wenn seine frühen Bilder teilweise wie surreale Gemälde wirken, so waren sie im Grunde doch sehr stark dokumentarisch. Im Laufe der Jahre aber wurden sie zunehmend stilisierter, grotesker und abstrakter. Die Zwillinge Dresie und Casie hat er noch vor eine Wand gestellt und fotografiert. In den späteren Porträts lässt er die Menschen vor der Kamera agieren oder er inszeniert sie mit Gegenständen, Zeichnungen und Tieren wie in einem absurden Theaterstück. Seit einigen Jahren verschwinden die Personen zunehmend aus den Bildern, Roger Ballen zeigt, wenn überhaupt, nur noch Körperteile, einen Fuß oder eine Hand wie aus dem Nichts. Das Gesicht und der Blick des Menschen sollen die Fotos nicht mehr dominieren.

Zwar erscheinen Ballens Porträts der weißen Südafrikaner wie ein politisches Statement zum Apartheidstaat, aber für Politik im herkömmlichen Sinn hat er sich nie interessiert. Denn auch als Fotograf ist er Geologe und Psychologe. "Je älter ich werde", sagt Ballen, "desto mehr muss ich zur Quelle vordringen, zu dem Platz, an dem unsere Träume entstehen, zur Quelle der Psyche."

Prickles, 2002, aus der Serie: Boarding House

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Du bist, was du siehst, könnte sich demnach der Betrachter sagen. Es reicht schon ein winziger genetischer Defekt, damit Menschen wie Bewohner aus der Steinzeit aussehen. "Dresie und Casie schockieren", sagte Roger Ballen schon vor Jahren, und zwar nicht, weil das Bild voyeuristisch wäre, sondern: "Durch sie blicken uns unsere Vorfahren an - und umgekehrt." Auch andere Bilder sind voll mit Archetypen. Da steht zum Beispiel ein Junge in seinem Kinderzimmer und an der Wand sind seine Kritzeleien zu sehen, Herzen, Strichmännchen, Skateboardfahrer. "Sehen Sie sich das genau an", sagt Roger Ballen, "das sieht aus wie eine frühe Höhlenzeichnung."

In seinen jüngsten Werken, in denen er vor allem mit Vögeln und Zeichnungen arbeitet, werden seine Welten noch gruseliger und grausamer. Und auch, wenn sie noch stärker wie gemalte Bilder aussehen, ziehen sie ihre verstörende Kraft vor allem daraus, dass es eben Fotos sind, analog aufgenommene Fotos, die in keiner Weise nachträglich bearbeitet wurden. Der Albtraum ist real.

Clown, USA, 1969, aus der Serie: Civil Rights

© SZ vom 12.11.2010/kar
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