Uraufführung von Robert Wilson:Reise in den Weltuntergang

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Das Drama der Menschheit gestaltet Robert Wilson nicht als Tragödie, sondern als stoische Erwartung des Unvermeidlichen. (Foto: Lucie Jansch)

Robert Wilson lässt sich vom Astrophysiker Stephen Hawking zu seiner Inszenierung "H - 100 seconds to midnight" am Thalia-Theater in Hamburg inspirieren.

Von Till Briegleb

Keine Grenze ist korrekt, sagt ein Stephen Hawking in Robert Wilsons neuem Stück. Das ist zwar eigentlich physikalisch-philosophisch gemeint, aber es trifft in diesem Fall auch auf die Arbeit des Regisseurs zu. Der letzte große Formalist des Theaters, der seit 50 Jahren abstrakte Bilder und künstliche Sprechrollen im Vertrauen darauf inszeniert, dass der Inhalt sich wie Sternenstaub aus den Gesten befreien wird, überschreitet plötzlich eine Grenze und erscheint als ernsthaft moralischer Mahner. Seine Inszenierung "H - 100 seconds to midnight" ist so konkret aussagegetrieben, dass vielleicht erstmals in der langen Gestaltungskarriere des texanischen Verpuppungskünstlers der Inhalt wirklich wichtiger wird als die Form.

Denn die Metaphern, die Robert Wilson bei seiner Rückkehr ans Hamburger Thalia Theater 30 Jahre nach seiner berühmten Inszenierung von "Black Rider" verwendet, handeln von der menschgemachten Apokalypse. Der Titel bezieht sich auf die Doomsday Clock, die Weltuntergangsuhr der amerikanischen Wissenschaftszeitung Bulletin of the Atomic Scientists. Sie steht auf 100 Sekunden vor dem Harmageddon, dem Ende aller Formen. Und dieses Leitmotiv wendet Wilson bei seinem Porträt des englischen Astrophysikers Stephen Hawking vom Poetischen ins Flehentliche. Die Uhr wird an diesem Abend heruntergezählt bis zum Doomsday. Nur das Wort "Mitternacht" gibt etwas Hoffnung auf einen neuen Morgen für die Menschheit, wenn auch nicht auf Mutter Erde. Nach Hawkings Glauben liegt die Zukunft seiner Spezies im All - den zerstörten Planeten zurücklassend wie "ein Zimmer in einer Sonne".

Der Mensch werde mit der Natur verschmelzen, heißt es. Eine gute Nachricht ist das nicht

Der Intendant des Theaters, Joachim Lux, kehrte für dieses Projekt zurück in die Rolle, die er vor seinem Wechsel ins Direktorenfach 2009 unter anderem am Wiener Burgtheater produktiv ausführte. Als Dramaturg und Textcollagist hat er Wilsons Menetekel erarbeitet, das im Kern aus drei Komponenten besteht: den Bestsellertexten des Cambridge-Professors, den Gedichten der libanesischen Künstlerin Etel Adnan, die sich in ihren Bildern und Worten mit dem Universum und der Rolle des Menschen darin beschäftigt hat, sowie aus Walter Benjamins schon vielfach im Theater verwendeten Gedanken zu Paul Klees Bild "Angelus Novus", das er als Rückstoß des Fortschritts in eine stürmische Zukunft interpretierte. Dabei blickt der "Engel der Geschichte" auf eine "einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft."

Wilson gestaltet spartanische architektonische Bilder und kalte Lichtstimmungen um die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler, die das schwarze Drama der Menschheit nicht als Tragödie geben, sondern als stoische Erwartung des Unvermeidlichen. "Is there a God?", fragt in vielen Szenen eine Stimme aus dem Off. So lautet das erste Kapitel aus Hawkings letztem Buch "Kurze Antworten auf große Fragen." Und wer weiß, dass der an ALS erkrankte Astrophysiker sich von seiner ersten Frau trennte, weil sie von dessen Existenz überzeugt war, kennt die Antwort. Der Mensch muss sich selbst dafür verantworten, dass er bald "mit der Natur verschmilzt", und zwar anders, als die Romantiker sich das vorgestellt haben: "aus Mangel an Liebe."

Das sind Etel Adnans Worte, und ihre lyrische Hingabe an die menschliche Reise in die Apokalypse prägt die schönsten Szenen des Abends. Die erst vor rund zehn Jahren auf der documenta 13 als bedeutend entdeckte und während dieser Gemeinschaftsarbeit mit Wilson 96-jährig gestorbene Künstlerin findet in aller Trauer über die Dummheit der männlich geprägten Welt einen Ton der Zuneigung. Ihre Zugewandtheit zum Leben gibt Wilsons finsterem Abend etwas Tröstliches, etwa mit Passagen aus ihrem Gedicht "The Arab Apocalypse", die von verschiedenfarbigen Sonnen handeln. Und auch Hawkings Erklärungen der Welt aus der physikalischen Perspektive waren ja stets von Humor und Optimismus getragen.

Hawkings Vision von der Zukunft der Menschheit: dass sie andere Planeten zum Weiterleben findet

Aber auch dieser Ansporn zum Positiven verwandelt sich in Wilsons Inszenierung ins düster Sarkastische. In der zentralen Szene, in der Jens Harzer, Barbara Nüsse, Tim Porath, Pauline Renévier und Marina Galic als weißgeschminkte Automatenwesen die 100 Sekunden bis zum Weltuntergang runterzählen, wird Hawkings Vision von der Zukunft der Menschheit eingeflochten: dass sie andere Planeten zum Weiterleben findet. Und das wirkt in diesem Szenario wie die typische "Nach mir die Sintflut"-Mentalität, mit der die Konsum-Automaten die Konsequenzen ihrer Gewohnheiten ignorieren.

Die zentrale Rolle in Wilsons zweistündiger Szenenmontage spielt Jens Harzer. Stilisiert wie ein Ted aus der optimistischen Epoche des Nachkriegskapitalismus wechselt dieser Geist Stephen Hawkings in verschiedene artifizielle Gefühlssegmente. Versonnen spricht er über das Staunen des Forschers vor der Unendlichkeit, phantasiert über die Ähnlichkeit von Engel und Astronaut, in Robotermechanik zelebriert er den Alltag daheim, und er darf auch schlechte Witze erzählen. Bei allem bleibt er ein Wesen ohne Charakter, das von Texten bespielt wird wie eine Festplatte.

Auch für den Weltuntergang gilt, was Hawking sagt: Keine Grenze ist korrekt

Sein Gegenpol ist Barbara Nüsse, die in ihrer eindringlichen Reduziertheit über den Mond philosophiert. Obwohl auch sie sich kaum bewegt wie alle Akteure in dieser statischen Inszenierung, berührt sie mit ihrer melancholischen Offenheit für die Schönheit der Dinge. Im Spot am Bühnenrand sitzend erweckt diese ernste Philosophin der Achtsamkeit nur mit ihrer Stimme die weltanschauliche Opposition. Wer die Erscheinungen mehr schätzt als ihre Erklärungen, dem geht es nicht um Präzision und Effizienz, sondern um Teilhabe und Liebenswürdigkeit.

Zwischen diesen gegensätzlich temperierten Figuren hat Wilson Raum gelassen für weitere Akteure. Die berühmte Choreografin Lucinda Childs, mit der Wilson schon in seinen New Yorker Anfängen kooperierte, choreografiert drei minimalistische Ballette mit Elfen, Felsen und gackernden Kindern zu Musik von Philip Glass, einem weiteren langjährigen Begleiter von Wilson. Und in dieser vielseitigen Kooperation eigenständiger Formen bleibt dann auch genügend Ungeklärtes stehen, um das große Rätsel der menschlichen Zukunft vielleicht doch nicht so eindeutig zu erleben, wie das Verrinnen der Zeit auf der Doomsday Clock es suggeriert. Es gilt eben auch für die Prophezeiungen des Weltuntergangs als unausweichlich: Keine Grenze ist korrekt.

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