Robert Wilson zum Achtzigsten:Der Bildermagier aus Texas

Robert Wilson zum Achtzigsten: "I am still kicking": Robert Wilson im September 2021 in Paris, wo der amerikanische Regisseur seinen 80. Geburtstag feiert.

"I am still kicking": Robert Wilson im September 2021 in Paris, wo der amerikanische Regisseur seinen 80. Geburtstag feiert.

(Foto: Joel Saget/AFP)

Robert Wilson war als Theaterregisseur stilprägend und seiner Zeit in vielem voraus. Noch immer jettet er als Universalkünstler durch die Welt. Eine Gratulation zum 80. Geburtstag.

Von Christine Dössel

Eigentlich sollte das hier ein Interview werden, Frage und Antwort. Doch sich mit Robert Wilson zu einem Gespräch zu verabreden, ist kompliziert, selbst in Zeiten, da man sich auch online begegnen kann. Wilson ist noch immer der ubiquitäre Großkünstler, der von Projekt zu Projekt durch die Welt jettet (seinen CO₂-Ausstoß berechnen wir mal lieber nicht). Amerika - Deutschland - Italien - Frankreich - Bulgarien, sein Terminkalender ist voller als der von manch einem Staatschef. Aber der Goodwill ist da. Nicht nur, weil der amerikanische Welttheatermacher schon immer ein hervorragender Vermarkter seiner selbst war und dafür jede Gelegenheit nutzt. Er ist einfach auch ein sehr freundlicher Mensch.

Also versuchen wir es per Whatsapp-Telefonat (ohne Video) während seiner Zugfahrt von Rom nach Florenz. Offenbar sein einziges Zeitfenster. Aber Pech: "Bob", wie ihn alle nennen (und er sich auch), ist über Nacht krank geworden. Erhöhte Temperatur. Er hustet, die Nase klingt zu. Auch die Verbindung ist nicht die beste. Hello? Can you hear me? Wir vertagen uns auf später, wenn er in seinem Hotel ist. Dort ist dann zwar die Akustik besser, nicht aber Bobs Zustand. Er hustet, entschuldigt sich, gibt sich Mühe, dass die Stimme nicht wegsackt. Anstrengend. Für beide Seiten. Er sagt, er habe zwanzig Minuten Zeit, "Maximum". Fortsetzung am nächsten Tag? Keine Chance. Da fliegt er nach Paris, hat ein Casting an der Oper, danach ein Dinner und so fort ... Er bietet an, zwischen den Terminen die restlichen Fragen schriftlich zu beantworten. Er ist, wie gesagt, ein höflicher Mensch.

Lange vor Christoph Marthaler hat er im Theater die Langsamkeit entdeckt und die Zeit gedehnt

Ein kurzer Einblick in das rastlose Leben des Robert Wilson, der doch eigentlich dafür bekannt ist, dass er in seinen formstrengen, hoch stilisierten Arbeiten die Zeit anhält, entschleunigt, zeitlupenhaft dehnt. Dessen künstlerischer Kosmos die Stille ist und das, was sie an Monstern und Fantastischem gebiert. Lange vor Christoph Marthaler war Wilson der Entdecker der Langsamkeit im Theater. Und lange vor Frank Castorf schuf er mit seinen großformatigen, normsprengenden Performances die längsten Inszenierungen. "The Life and Times of Josef Stalin" 1973 dauerte zwölf Stunden. Das Wüstenlandschafts-Stück "KA MOUNTAIN and GUARDenia Terrace" beim Shiraz-Theaterfestival in Iran zog sich 1972 über eine ganze Woche. Die Performer kippten reihenweise um und mussten ins Krankenhaus, weil sie dehydriert waren und der manisch jegliche Zeitstruktur aufbrechende Regisseur vergessen hatte, auch mal Schlaf einzuplanen.

Geboren wurde Robert Wilson am 4. Oktober 1941 in Waco, Texas. Tiefste Provinz. Der Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann ohne Sinn für Kunst, die Mutter "kühl und distanziert". Bob wächst mit einer Sprachstörung auf, er stottert, ist ein Außenseiter, einsam, sensibel. Erst durch die Begegnung mit der Tänzerin Byrd Hoffman, die Ballettunterricht für Kinder gibt, überwindet er mit 17 seine Sprachbehinderung. Später, 1968, wird er sein experimentelles Performance-Kollektiv "The Byrd Hoffman School of Byrds" nach ihr benennen. Manche sehen bis heute den therapeutischen Aspekt von Wilsons Theater. Seinem Vater zuliebe schreibt er sich zunächst für Betriebswirtschaft an der Universität von Texas ein, geht 1962, nachdem er sich als schwul geoutet hat, dann aber nach New York und studiert Architektur. Prägend für ihn werden die Tanzaufführungen von George Balanchine, Merce Cunningham und Martha Graham. Schon damals interessierte ihn psychologisches Theater nicht die Bohne. Dafür umso mehr der Körper und dessen Behauptung im Raum.

Während seines Studiums arbeitete er mit behinderten Kindern. Es war ein 13-jähriger taubstummer Junge, der ihn überhaupt zu seinem ersten großen Stück inspirierte, der Afroamerikaner Raymond Andrews, der als "zurückgeblieben" galt und in eine Anstalt für straffällige Jugendliche eingewiesen werden sollte. Wilson erzählt, wie er es schaffte, diesen schwarzen Jungen 1967 zu adoptieren, was "nahezu unmöglich" gewesen sei für einen "weißen, jungen, schwulen Mann". Gemeinsam entwickelten sie die stumme Sieben-Stunden-Performance "Deafman Glance" (1970), die in die Welt dieses Gehörlosen führte, eine Welt der visuellen Zeichen und Signale. Es wurde ein phänomenaler Erfolg. Auch in puncto Inklusion, aktuell ein Bestreben sehr vieler Theater, war Wilson mithin seiner Zeit weit voraus. Besonders wichtig wurde für ihn die bis heute andauernde Zusammenarbeit mit dem autistischen Künstler Christopher Knowles, den er kennenlernte, als dieser elf Jahre alt war, ein Junge, der in Begriffen der Mathematik dachte und sprach. Seine kryptischen Texte flossen in viele Stücke ein, den Anfang machte 1974 "A Letter for Queen Victoria".

"Einstein on the Beach" war ein Meilenstein in der Theater- und Musikwelt des 20. Jahrhunderts

1976 dann "Einstein on the Beach", die Oper mit der Minimal Music von Philip Glass und den Choreografien von Lucinda Childs, ein Meilenstein in der Theater- und Musikwelt des 20. Jahrhunderts, uraufgeführt beim Festival in Avignon. Enigmatische Bilder auf einer Wahnsinnsbühne, keine lineare Handlung, kein Biopic über Albert Einstein, eher Musik- und Bewusstseinsstrom gewordene Relativitätstheorie. Ein Rausch aus Silben, Zahlen, Versen, Klängen. Bahnbrechend. Zu den Fans zählte Susan Sontag, die behauptete, sie habe das Stück vierzigmal gesehen.

Robert Wilsons Karriere als global agierender Avantgardist und Hochglanzminimalist, auch: Jetset-Protagonist, war von da an nicht mehr aufzuhalten. Sein überhaupt nicht an Narration und Sinnproduktion interessierter Stil der Schönheit, Poesie und Abstraktion wurde Kult, hat Menschen verzaubert und süchtig gemacht. Vor allem in Europa, und speziell in Deutschland, wo Wilsons Traumwelten-Design das politische Theater der Siebzigerjahre aufweichte, wurde der Texaner als Bühnenmagier gefeiert, ja, vergöttert.

Robert Wilson zum Achtzigsten: Unverkennbar eine Szenerie von Robert Wilson: Nein, nicht aus seinem Welthit "The Black Rider", sondern aus seiner Inszenierung "Faust I und II" von 2015 am Berliner Ensemble. Die Musik dazu schrieb Herbert Grönemeyer.

Unverkennbar eine Szenerie von Robert Wilson: Nein, nicht aus seinem Welthit "The Black Rider", sondern aus seiner Inszenierung "Faust I und II" von 2015 am Berliner Ensemble. Die Musik dazu schrieb Herbert Grönemeyer.

(Foto: Lucie Jansch)

Stücke wie "Death Destruction & Detroit", 1979 an der Berliner Schaubühne, oder das Mammutprojekt "the CIVIL warS", dessen einzelne Teile in vier verschiedenen Ländern herauskamen (ursprünglich für die Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles geplant), waren spektakulär. Seit Mitte der Achtzigerjahre adaptiert und inszeniert der Allrounder Wilson - er ist Bühnenbildner, Maler, Video- und Installationskünstler, Licht- und Objektdesigner in einem - auch Stücke anderer Autoren. Am Hamburger Thalia-Theater triumphierte er 1990 mit seinem "Black Rider"; das Libretto (nach Webers "Freischütz") lieferte der Beat-Poet William S. Burroughs, die Musik kam von Tom Waits. Das Stück wurde ein Welterfolg - und ein Klassiker des Repertoires. In der kommenden Saison wird Wilson nach langer Zeit wieder am Thalia-Theater inszenieren, und er verrät auch schon, was: ein Stück, basierend auf den Schriften von Stephen Hawking. Er tut sich dafür mit der libanesischen Schriftstellerin Etel Adnan zusammen. Prominente Kollaborateure hatte der feinsinnige Charismatiker schon oft, von Heiner Müller über Jessye Norman bis hin zu Marina Abramović oder, in seinen grandios langsamen, grandios hochauflösenden "Video-Porträts", Lady Gaga.

Das deutsche Theater blieb sein liebstes Terrain, vor allem am Berliner Ensemble hat er viel gemacht. "Lulu" mit Angela Winkler, "Shakespeares Sonette" mit dem Musiker Rufus Wainwright, "Faust I und II" mit Herbert Grönemeyer. Seine "Dreigroschenoper" von 2007 war ein Dauerbrenner mit 300 Aufführungen. Unverkennbar stets Wilsons Ästhetik (seine Kritiker sprechen von Masche, Manier): puppenhafte Schauspieler mit weiß geschminkten Gesichtern und expressionistischer Stummfilm-Gestik. Viel Scherenschnitt- und Schattentanzoptik, mechanische Bewegung im Raum. Dazu das Licht, mit dem bei Wilson jede Schöpfung beginnt: perfekt ausgefeilt bis ins Detail. Große Kunst ist das oft. Manchmal auch großes Kunsthandwerk.

"Deutsche Schauspieler und Regisseure brauchen immer einen Grund, etwas zu tun."

Dass er ein Oberflächenkünstler ist, der den Effekt bedient und sich um Interpretation nicht schert, hat Wilson oft gesagt, und er sagt es auch jetzt wieder, hustend am Telefon: "Deutsche Schauspieler und Regisseure brauchen immer einen Grund, etwas zu tun." Er sei da anders, er komme von der Zen-Philosophie, "ich brauche keinen Grund. Das Geheimnis liegt an der Oberfläche."

Opern, Installationen, Lecture-Performances, Ausstellungen - der umtriebige Wilson hat stets mehrere Sachen gleichzeitig am Köcheln. Seine Homebase ist das 1992 von ihm auf Long Island gegründete Watermill Center, ein Performancezentrum, in dem junge Künstler und Kreative sich ausprobieren können, eine Art Thinktank und Labor, aber auch eine Robert-Wilson-Kultstätte. Seine Kunstsammlung mit Fundstücken und Objekten aus aller Welt ist dort ebenso untergebracht wie schon jetzt sein geistiges Erbe. Eine ganze Phalanx von Wilson-Assistenten hält die Maschinerie am Laufen. Der Meister ist fast nur im Sommer da.

Seinen 80. Geburtstag an diesem Montag feiert Wilson in Paris, wo das Théâtre de la Ville gerade zwei Stücke von ihm zeigt und Ende Oktober auch sein "Jungle Book" wieder aufnehmen wird. Dann muss er nach Sofia, wo er Shakespeares Alterswerk "Der Sturm" inszeniert. In Italien hat er gerade eine Ausstellung zu Jack Kerouac vorbereitet, davor gastierte er mit "Oedipus" in Budapest. So düst er dahin, der unermüdliche Major Bob, ewiger Raumfahrer in den Sphären der Kunst. Er kann nicht anders. "Die Kunst", sagt er, "ist mein Leben."

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