Robert Schumann zum 200.:Sehnsucht nach dem Paradies

Schumann ist der erste Komponist der Moderne: Seine Musik überstieg ständig ihre eigenen Grenzen - und verwies auf eine Welt, in der er sich nicht wohlfühlte.

Reinhard Brembeck

Schumann ist für die Musikwelt verloren. Diese These mag verblüffen, ärgern, verstören. Man muss aber nur in einen der unzähligen Seitenpfade des Schumann-Kosmos einbiegen, um sich von ihrer Triftigkeit zu überzeugen. Selbst bei den bekannten Stücken erlebt man üble Überraschungen.

Robert Schumann

Zum Beispiel im letzten Stück der "Kreisleriana", einem eilig hüpfenden Totentanz. Der große Wilhelm Kempff hat das Stück 1973 eingespielt, traumverhangen, zögerlich, nachdenklich, atmosphärisch zart. Mit dieser Lesart zeichnet Kempff das typische Bild eines Romantikers, wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Klassischen Musik etabliert hat: Dieser Romantiker ist introvertiert und der Welt abhanden gekommen, durch die er ziellos und unsicher tappst.

Aber entspricht diese Interpretation wirklich dem Kompositionsstil von Robert Schumann? Der Notentext lässt Zweifel an Kempffs Lesart aufkommen. Das fängt beim Tempo an. Es ist bekannt, dass Schumann, ähnlich wie Beethoven, zumeist sehr viel zügigere Tempi verlangt, als es das Gros der Interpreten zugestehen will. Mit dem Effekt, dass (wie bei Kempff) Schumanns Musik zu weich daherkommt, die Konturen abgeschliffen werden und das auch politisch Unangepasste schwindet.

"Schnell und spielend" steht zu Beginn der letzten "Kreisleriana"-Nummer, und über dem Mittelteil findet sich gar ein "Mit aller Kraft" - Kempff setzt sich poetisch frei auch darüber hinweg. Walter Gieseking aber hat sich in seiner 1942 entstandenen Aufnahme radikal an diese Vorschriften gehalten. Bei ihm ist dieser Totentanz ins aussichtslose Licht des Nihilismus getaucht, und der "Mit aller Kraft" vorzutragende Mittelteil wird von Gieseking mit einer Verzweiflung gehämmert, die Prokofjew als zivilisiert harmlos erscheinen lässt.

Dieser von Gieseking porträtierte Romantiker, der sich auch bei anderen älteren Pianisten wie Cortot oder Rachmaninow entdecken lässt, ist der extrovertierte Gegenentwurf zu den introvertierten Nachkriegsauffassungen. Bei Gieseking tritt Schumann als Romantiker an, dessen Musik beständig ihre eigenen Grenzen übersteigt, einer der sich nicht wie noch Bach, Haydn und Mozart innerhalb des selbstreferenziellen Systems der thematischen Arbeit bewegt, sondern beständig auf etwas außerhalb der Musik verweist: Auf eine Welt, in der er sich nicht wohlfühlt, deren Regeln ihm kalt und abstoßend erscheinen, deren Forderungen er nur teilweise und häufig gar nicht erfüllen kann. Romantik bedeutet in dieser Lesart nichts anderes als die endgültige Vertreibung aus dem Paradies - hinein ins Ödland der Moderne.

Ansätze zu solch einem Komponieren finden sich schon bei Beethoven, auch wenn dieser mit der ihm eigenen Gewalt noch die disparaten Momente seines Schaffens zur Einheit zu zwingen vermag. Das gelingt dann schon Schubert nicht mehr, dessen Musik endgültig in jene Vereinzelung und Zersplitterung abdriftet, die alles Komponieren bis heute prägt. Der Moment steht fortan im Mittelpunkt: Beethovens Bagatellen sind dafür Beispiele, Schuberts Lieder, Schumanns Sammlungen kurzer Einzelstücke wie "Kreisleriana" oder "Carnaval" . Die große Form, also Sinfonien und Sonaten, schon bei Beethoven nur mehr erzwungen, lässt sich nach dessen Tod allenfalls noch als subjektive Behauptung formulieren, die von Außenstehenden zwar hingenommen, aber nicht mehr als zwingend logisch wie bei Haydn oder Mozart erfasst werden kann.

Genauigkeit über Effekt

Die Vertreibung aus dem Paradies hat bei Schumann eine Erinnerung an dasselbe hinterlassen, das er in der bei ihm allgegenwärtigen Sehnsucht nach der Idylle immer wieder komponiert. Doch der Trost dieser so beschworenen Idylle ist bitter, weil ihre Klänge sie stets als unerreichbar, als Chimäre formulieren. Die Fähigkeit, solch Unvereinbares gleichzeitig zu sagen, ist ein charakteristischer Wesenszug der klassischen Musik und macht sie der Literatur überlegen - hier könnte ein Grund dafür liegen, dass sich Schumann fürs Komponieren und nicht fürs Schreiben entschieden hat.

Der Zug des Gezwungenen

Wegen dieser Sehnsucht nach dem Paradies scheint Schumann die Revolte, zu der ihn die Welt herausforderte, schwer gefallen zu sein. Sein kompositorisches Naturell ist eines, das dem Strömen, auch dem sich Verströmen zugeneigt ist - Kontraste und abrupte Umbrüche sind seine Sache nicht. Das könnte erklären, warum sich bei Schumann - genauso wie bei Schubert, Mendelssohn, Brahms - so gut wie nie Dramatik im gängigen Sinne findet. Alles Aufbrechen und Rebellieren hat bei Schumann den Zug des Gezwungenen, des gewaltsam von außen Herbeigeführten.

Selbst im Finale der "Symphonischen Etüden" ist das unüberhörbar. Hier soll Synthese erreicht werden, hier soll Schlusswirkung durch Kraft und Länge hergestellt werden. Schumann bräuchte eine Kontrastpartie zu dem triumphal akkordisch aufrauschenden Hauptthema. Aber diesen absteigenden Gegengesang kann er nicht ohne Beziehung zum Hauptthema denken (Mozart hätte an diesem Punkt keine Skrupel gehabt). Deshalb unterlegt er dem Gesang den prägnant punktierenden Rhythmus des Hauptthemas. Die so hergestellte Einheit hebt aber den dramatisch notwendigen Kontrast auf. Hier treffen keine Welten aufeinander, vielmehr wird suggeriert, dass es nur eine kleine Welt gibt, der niemand entkommen kann. Weshalb auch alle Sehnsucht danach sinnlos ist.

Diese Sinnlosigkeit kommt übrigens in der 1834/35 geschriebenen Erstfassung der "Symphonischen Etüden" deutlicher heraus als in der gängigen Partitur. Der Pianist Lev Vinocour hat das sich in Privatbesitz befindliche Manuskript als erster eingespielt (Telos Music), musste dafür auch vier fehlende Takte ergänzen. Diese Fassung enthält nur sieben der 1837 veröffentlichen Stücke, dazu kommen eine bis zu Vinocours Aufnahme unbekannte Nummer sowie fünf nachgelassene Etüden, die viele Pianisten - dramaturgisch meist wenig überzeugend - in die Zweitfassung einfügen.

Die Erstfassung ist deutlich fahler und introvertierter, depressiver und verhaltener als die 1837 veröffentlichte Variante - vermutlich hätte der Zyklus in der Frühform nie und nimmer Furore gemacht. Erst die grundsätzliche Überarbeitung erbrachte jene offensiv überrumpelnde Ansprache ans Publikum, die den Welterfolg der "Symphonischen Etüden" bis heute garantiert.

Andrerseits aber ist die Urfassung Schumanns Kunstauffassung näher, die Verständlichkeit und Außenwirkung nicht als musikalischen Auftrag begreift. Lieber und mit allen ihm zugänglichen Kompositionstechniken betreibt Schumann ein filigran verästeltes Klangdenken, das Genauigkeit über Effekt stellt und exakt seine Reaktion auf die Unbilden der Welt dokumentiert. Solch ein radikales Unternehmen aber konnte nie populär werden und erklärt, warum Schumann, dieser erste Komponist der Moderne, mit den meisten seiner Werke nie Erfolg hatte - und auch nie haben wird.

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