Robert Icke am Wiener BurgtheaterEine Lüge rettet Leben

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Der Brite Robert Icke hat sich mit Klassiker-Überschreibungen einen Namen gemacht. Jetzt versucht er es mit Arthur Schnitzler: "Die Ärztin" am Wiener Burgtheater.

Von Wolfgang Kralicek

Eine junge Frau liegt nach einem missglückten Schwangerschaftsabbruch im Sterben. Der katholische Priester, der ihr die Letzte Ölung erteilen möchte, steht vor der Tür, der behandelnde Arzt aber verweigert ihm den Zutritt. Begründung: Die Todgeweihte wisse selbst nicht, wie schlecht es um sie steht, und so solle es auch bleiben. Der Skandal, den das auslöst, wird den Doktor am Ende die Karriere kosten. Arthur Schnitzler beschrieb in seinem Stück "Professor Bernhardi" von 1912 minuziös, wie der jüdische Titelheld, ein erfolgreicher Klinikchef, einer antisemitisch motivierten Mobbingkampagne zum Opfer fällt.

In seinem Drama "Die Ärztin" holt der englische Dramatiker und Regisseur Robert Icke das Stück in die Gegenwart. Das Ärztekollegium ist keine reine Männerwelt mehr, die Hauptfigur, Professor Ruth Wolff, ist hier eine Frau. Sie leitet eine Privatklinik, die sich auf Alzheimerpatienten spezialisiert hat. Der zentrale Konflikt des Stücks wird dadurch verschärft, dass der Pfarrer schwarz ist - neben Religion und Gender kommt also auch noch Race ins Spiel.

Der 35-jährige Robert Icke hat mit seinen Klassikeradaptionen zuerst in London Furore gemacht und ist inzwischen auch auf dem Kontinent gefragt. Nach Inszenierungen in Stuttgart ("Orestie") Amsterdam ("Oedipus") und Basel ("Hexenjagd") gab er mit der "Ärztin" nun sein Wien-Debüt. Dabei hat Icke das Konzept der Londoner Uraufführungsproduktion ( "The Doctor", 2019) eins zu eins auf die Bühne des Burgtheaters übertragen. Das Bühnenbild von Hildegard Bechtler und das perkussive, live getrommelte Sounddesign von Tom Gibbons sind betont nüchtern gehalten, und obwohl die Szenerie gar nicht nach Krankenhaus aussieht, hat die Atmosphäre etwas Aseptisches.

Das färbt auch auf die Schauspieler ab, die kaum Gelegenheit haben, lebendige, spannende oder wenigstens witzige Figuren zu entwickeln. Sogar Sophie von Kessel in der Hauptrolle bleibt ziemlich eindimensional, obwohl wir Professor Wolff, anders als Bernhardi, auch als Privatperson kennenlernen. Sie lebt in einer lesbischen Beziehung mit der sanftmütigen Charlie (Sandra Selimovic), die leider an - ausgerechnet! - Alzheimer leidet. Auch die menschliche Tragödie hat in diesem Thesendrama etwas Konstruiertes.

Professor Bernhardi wird zu zwei Monaten Kerker verurteilt; Professor Wolff wird von den Medien der Prozess gemacht. Erst rauscht ein Shitstorm durchs Internet, dann wird sie in einer TV-Show von einem Pastor, einer Abtreibungsgegnerin, einem Judaisten und einem Experten für postkoloniale Theorie ins Kreuzverhör genommen. Ob es Icke tatsächlich darum geht, den Konflikt aus wirklich jedem denkbaren Blickwinkel zu durchleuchten, oder ob die Szene eher als satirische Kritik an Wokeness-Exzessen zu verstehen ist, wird nicht ganz deutlich - und wahrscheinlich ist genau das auch die Absicht.

Verglichen mit den smarten Klassikerüberschreibungen des Australiers Simon Stone wirkt "Die Ärztin" recht grob gestrickt. Dazu kommt, dass die Inszenierung den Transfer auf das Festland nicht schadlos überstanden hat. Bei der Besetzung etwa nimmt Icke keine Rücksicht auf Geschlecht und Hautfarbe; Frauen werden von Männern gespielt, Weiße von Schwarzen - und umgekehrt. Ein Kunstgriff, der produktive Irritation auslöst, im diesbezüglich viel diverseren Londoner Theater allerdings wohl ungekünstelter daherkommt als in Wien.

Erst ganz am Ende, wenn alles verloren ist und Professor Wolff zu kämpfen aufgehört hat, kann auch Sophie von Kessel endlich loslassen; die letzte Szene, in der sie wieder auf den Pfarrer (Philipp Hauß) trifft, ist die stärkste des Abends. Noch einmal debattieren sie den Fall, der alles ausgelöst hat. "Wenn Lüge Hoffnung bedeutet, dann könnte diese Lüge Leben retten", sagt die Ärztin. "In meinem Metier wissen wir das schon lange", erwidert der Pfarrer trocken.

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