Robert Brandoms Sachbuch "Im Geiste des Vertrauens":Verpflichtung zur praktischen Großherzigkeit

Robert Brandoms Sachbuch "Im Geiste des Vertrauens": Robert Brandom

Robert Brandom

(Foto: Fudan University/Suhrkamp Verlag)

Robert Brandom hat Hegels "Phänomenologie des Geistes" neu gelesen und besteht darauf, dass wir nur durch systematische Philosophie zu besseren Menschen werden.

Von Thomas Meyer

Philosophen, die ein Faible für Esoterik haben, sollte man beim Wort nehmen. Wenn also einer schreibt, er lese einen Text seit 25 Jahren ganz neu oder er habe seit 40 Jahren an einem Buch gesessen, dann ist dem so. Die Regel trifft auch im Falle des 1950 geborenen Robert B. Brandom zu. 1979 veröffentlichte er einen Artikel, in dem er sich auf die Suche nach einen Theorierahmen für die adäquate Analyse des Verhältnisses von objektiven Begriffen und sozialen Praktiken machte. Brandom setzte dazu bei der Diskussion des Freiheitsverständnisses von Kant durch Hegel und seine Schüler an. Und obwohl der Text mit dem Hinweis auf die notwendige Weiterführung dialektischer Prozesse endete, war Brandom davon überzeugt, dass das behandelte Problem nicht in Hegels "original and ferocious idiom" zu analysieren und zu lösen sei.

Statt in der "grausamen" Sprache des deutschen Denkers verblieben Brandoms Argumentationen in den Begriffsbahnen, die Wittgenstein, Frege, Wilfrid Sellars und sein Lehrer Richard Rorty entwickelt hatten. Die Ergebnisse präsentierte der in Pittsburgh Lehrende 1994 in der Studie "Making It Explicit", die sechs Jahre später mit dem griffigen Titel "Expressive Vernunft" bei Suhrkamp erschien. Die darin vorgenommene Problemrekonstruktion und das Lösungsangebot ließen Kant und Hegel nur noch erahnen, doch zugleich war die Pointe, wonach sich die in der Sprache abgebildeten normativen Strukturen nicht in der Wirklichkeit finden, darin aber zugleich unhintergehbare soziale Gehalte eingelagert sind, die zu aktualisieren wären, leicht in die Theoriesprache der Altvorderen rückübersetzen.

Die "Postmoderne" ist hier kein emphatischer Wertbegriff, sondern eine Epoche, die am 14. November 1831 beginnt, dem Todestag Hegels

40 Jahre nach dem Aufsatz hat Brandom den Schleier endgültig fortgezogen und "seinen" Hegel präsentiert, den man jetzt auch auf Deutsch lesen kann. "Im Geiste des Vertrauens" bietet in der Tat eine Lektüre der "Phänomenologie des Geistes". Wobei das "eine" tatsächlich eine von zahllosen falschen Spuren in dem 1200 Seiten umfassenden Buch legt, aber dazu später.

Brandoms Programm ist im gerade referierten Kern unverändert geblieben. Er hat einige Weiterungen vorgenommen, die sofort für hochgezogene Augenbrauen in der Kollegenschaft sorgten. Um was geht es? "Die Natur des begrifflichen Inhalts theoretisch zu verstehen, durch den wir uns in unserer diskursiven Tätigkeit normativ binden, bedeutet, dazu gebildet und motiviert zu werden, bessere Menschen zu sein: großzügige Menschen, die sich im normativen Raum des Geistes in seiner postmodernen Form des Vertrauens bewegen, die ihm leben und ihr Dasein führen."

Robert Brandoms Sachbuch "Im Geiste des Vertrauens": Robert B. Brandom: Im Geiste des Vertrauens. Eine Lektüre der "Phänomenologie des Geistes". Aus dem Amerikanischen von Sebastian Koth und Aaron Shoichet. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 1196 Seiten, 62 Euro.

Robert B. Brandom: Im Geiste des Vertrauens. Eine Lektüre der "Phänomenologie des Geistes". Aus dem Amerikanischen von Sebastian Koth und Aaron Shoichet. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 1196 Seiten, 62 Euro.

Daraus leitet sich für Brandom eine "Verpflichtung zur praktischen Großherzigkeit" ab, von der sich erwiesen habe, "dass sie dem Sprechen und Handeln schon immer implizit ist." Wer bei "Postmoderne" an die bösen Relativisten aus Frankreich denkt und bei "Großherzigkeit" sein Graecum mobilisiert, dahinter also die "megalopsychia" des Aristoteles vermutet, hat wohl zugleich zu viel und zu wenig spekuliert. Zu viel, weil Brandom, gleichwohl ein sehr guter Kenner der philosophischen Traditionen, nur Begriffshülsen anbietet. Zu wenig, weil Brandom diese Begriffshülsen mit "Brandom" ausfüllt. Die "Postmoderne" ist hier kein emphatischer Wertbegriff, vielmehr eine Zeiteinheit, die sich nahtlos an das Jahr 1831, genauer gesagt: an Todestag Hegels am 14. November 1831 und damit an das Ende der "Moderne", anschließt. Und die "Großherzigkeit" ergibt sich aus Brandoms tiefer Verwurzelung im Ethikprogramm des Neo-Pragmatismus und vor allem in dem von John Dewey.

Brandom liest also Hegels "Phänomenologie des Geistes", um sein Theorieprofil zu schärfen und auszubauen. Er ist bei weitem nicht der erste, der die von Hegel entworfene Architektur nutzt, um das eigene Denkgebäude wetterfest zu machen. In gewisser Weise folgt unser Interpret dem weisen Satz von Marx, der sich in den 1844 verfassten "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" findet: "Man muß beginnen mit der hegel'schen Phänomenologie, der wahren Geburtsstätte und dem Geheimniß der hegel'schen Philosophie." Von dieser Einsicht getragen, hat Brandom die ihn interessierenden Teile des 1807 erstmals erschienenes Rätselwerks entleert und fortan dem oben zitierten Vorhaben dienstbar gemacht. Insbesondere die Abschnitte um den "Kampf um Anerkennung" verdienen Aufmerksamkeit, da sich hier eine Alternative zu Axel Honneths Programm auftut.

Klug verteilt finden sich im ganzen Band manche lesenswerte Polemiken

Wer eine Rechtfertigung für dieses Tun sucht, der lese das aus guten Gründen mitten im Buch zu findende, neun Seiten lange "Methodologische Nachwort" (!) und alle Beweislast fällt von Autor und Leser ab. Spätestens nach dieser Lektüre ist es wohlfeil, Brandom das (vermeintliche) Ignorieren von Sekundärliteratur zu vorzuwerfen, schließlich geht es um seine "einheitliche Theorie von Sprache und Geist", deren Konstruktionspläne sich eben bereits in der "Phänomenologie" finden. Sieht man von dem jahrzehntelangen Denkgefährten Pirmin Stekeler-Weithofer von der Universität Leipzig einmal ab, so hat bislang niemand im deutschsprachigen Raum das sich hinter dem Label "Hegel" verbergende "Geist und Sprache"-Gelände so genau vermessen, wie es Brandom jetzt tut. Man muss dabei nicht alle Winkelzüge en detail verstehen, kann sich manche sehr technisch geratenen Abschnitte in der zweiten Hälfte des Buches sparen, sollte sich aber, wenn auch hier nicht das Niveau des Originals erreicht wird, die Polemiken gönnen, die Brandom klug verteilt hat.

Es ist Zeit zu den falschen Spuren zurückzukehren: Wer also bereit ist, sich auf dieses Denkmassiv einzulassen, der sollte die vom Autor aufgestellten Hegel-Wegweiser ignorieren. Denn sie führen nur auf den Weg der Verzweiflung, zumal dann, wenn man die "Phänomenologie" neben sich liegen hat und sich in so großartigen Deutungen wie der von Walter Jaeschke ("Hegel", Meiner Verlag, Hamburg 2019) oder in der philosophischen Biographie von Klaus Vieweg ("Hegel", C. H. Beck, München 2019) Rat sucht.

Brandom seinerseits ist ausdrücklich "erbaulich" und behandelt Philosophie entgegen allen Transparenzversicherungen als "esoterisches Besitzthum einiger Einzelnen". All das nicht zum Schaden möglicher Leser, aber man sollte eben wissen, worauf man sich einlässt. Nämlich auf ein ziemlich raffiniert konstruiertes Buch, das mit immensem Ernst auf die Möglichkeit einer systematischen Philosophie insistiert, deren konsequentes Betreiben sich als genuines Sorgen um den Menschen entpuppt. Wer sprachlich verfasst denkt, der hilft das Humanum im Denken wirklich werden zu lassen. Vielleicht ist es das, was Brandom umtreibt.

Eine Würdigung von "Im Geiste des Vertrauens" muss die beiden Übersetzer unbedingt einschließen. Sebastian Koth und Aaron Shoichet haben die Begriffs- und Argumentationswelt Brandoms konsequent und kohärent in ein elastisches Deutsch umgegossen. Der Rezensent war ob der gewaltigen Leistung regelrecht erleichtert, als er bemerkte, dass Koth und Shoichet ein Hegel-Zitat unvollständig wiedergaben. Und da der vergessene Satz so schön ist, auch weil er auf Brandoms Projekt verweist, sei er nicht verschwiegen: "Die Art dieses Tuns ist näher anzugeben." 1200 Seiten voller Denkübungen sind dafür nicht zu wenig!

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