Süddeutsche Zeitung

Sprachtabus an US-Unis:Man wird ja wohl noch...

Bei vielen US-Studenten stoßen Seminare mit Themen zu sexuellen Übergriffigkeiten auf Ablehnung. Jetzt ist an den Unis eine Debatte über politisch korrekte Ausdrucksweise entbrannt.

Von Peter Richter, New York

Die Studenten der Columbia University in New York wollen seit einiger Zeit vor Ovids "Metamorphosen" gewarnt werden: Die Geschichten von den "liebestollen" Göttern und ihren "Nachstellungen" laufen in der Regel auf den Tatbestand der sexuellen Nötigung hinaus. Wer sich dem nicht aussetzen möchte, soll die Möglichkeit haben, den Raum zu verlassen, bevor das Buch behandelt wird. Der antike Klassiker, Grundlagenlektüre, wenn man zum Beispiel verstehen will, was auf grob gesagt der Hälfte aller Kunstwerke der Renaissance und des Barock abgebildet ist, zählt jetzt zu den heiklen Schriften.

Es ist ein gewisses Risiko damit verbunden, damit universitätsöffentlich zu hantieren. Denn bei den sexuellen Übergriffigkeiten hören die Götter ja nicht auf, sie machen sich zum Beispiel auch der Altenfeindlichkeit schuldig, etwa da, wo Apoll jene Sybille, die ihm nicht zu Willen ist, zu tausend Jahren körperlichen Verfalls verdonnert. Es gibt vieles, was bei anfälligen Studenten ungute Gefühle hervorrufen - Psychologen sagen: triggern - kann. Professoren müssen das künftig berücksichtigen.

Die Forderung von Studenten nach "Trigger Warnings" sind während der letzten zwei Jahre ein beherrschendes Thema geworden im amerikanischen Hochschulbetrieb. Viele Universitäten haben dem Druck nachgegeben, es gibt jetzt wieder indizierte Bücher, eigentlich sogar ganze Themen. Die in Harvard lehrende Jura-Professorin Jeannie Suk berichtete Ende vergangenen Jahres im Magazin New Yorker davon, wie schwierig es geworden sei, überhaupt noch über den rechtlichen Umgang mit Vergewaltigungen zu lehren.

Studentenorganisationen verlangten Trigger-Warnungen bei dem Thema, außerdem die Befreiung der Studenten von der Erwartung, sich an der Diskussion zu beteiligen oder gleich ganz rundheraus den Verzicht darauf, das Gebiet überhaupt zu behandeln. Ein Kollege sei von einer Studentin gebeten worden, das Wort "verletzen" nicht mehr zu benutzen, auch nicht in der Formulierung "das Gesetz verletzen", weil es traumatisch auf sie wirken könne.

Comedians machen Bogen um amerikanische Universitäten

Das Beharren darauf, dass schon die Benennung einer Verletzung wie eine semiotische Voodoopuppe selbst eine Verletzung hervorruft, führt in der Konsequenz natürlich dazu, dass im Prinzip schon Trigger-Warnungen selbst zu Triggern werden und am besten jedes Thema, bei dem sich jemand verletzt fühlen könnte, gleich ganz vermieden wird. Neben Sex, Gewalt, Klassenunterschieden und so weiter betrifft das in den USA immer auch das Verhältnis der weißen Mehrheit zu den ethnischen Minderheiten und zu Immigranten.

Es sind nicht gerade die konservativsten aller amerikanischen Blätter, die gegen diesen Sensitivitäts-Extremismus jetzt Stellung beziehen. Nach dem New Yorker hat nun auch das ebenfalls eher liberale Magazin Atlantic Monthly gefunden, dass das Thema an die Öffentlichkeit gehöre und einen ganzen Schwerpunkt dazu gebracht.

Comedians wie Chris Rock, Jerry Seinfeld oder Bill Maher machten inzwischen lieber große Bögen um amerikanische Universitäten, als sich dort wegen eventuell irgendjemandem übel aufstoßender Zungenschläge von einer anonymen Studenten-Inquisition zusammenfalten zu lassen. Nachwuchs-Komiker, für die Campus-Auftritte ein traditioneller Berufseinstieg sind, müssten ihre Pointen inzwischen dermaßen rundfeilen, dass wirklich selbst die denunziatorischste Seele nicht auf die Idee kommen kann, irgendein Sitznachbar könnte sich beleidigt fühlen. Denn oft ist diese Sensibilität offenbar eine eher stellvertretende.

Jonathan Haidt, ein New Yorker Sozialpsychologe, und Greg Lukianoff, Leiter der Stiftung für "Individual Rights in Education", stellen sich in dem Heft die Frage, woher das kommt und wohin das führt. Ihr Ergebnis: Das Drängen auf eine "politisch korrekte" Ausdrucksweise, das ab den Achtzigern dazu führen sollte, Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen, habe sich fortentwickelt zu einem Aufspüren immer feinerer "Microaggressions" selbst in den scheinbar harmlosesten Äußerungen.

Das andere ist eine Wendung der Fürsorge von den sozialen und ethnischen Minderheiten in die Innenwelten der Mehrheit. Auch der weiße Mittelklassenstudent kann sich so als Opfer fühlen, und auch wer nicht sexuell missbraucht wurde, darf den Schmerz zurückweisen, den drastische Schilderungen auslösen können. Es ist die Frage, die auch außerhalb der Universitäten viele Ältere umtreibt: Was hat diese sogenannten Millennials bloß zu einer derart wehleidigen Generation gemacht.

Seelische Probleme unter Studenten nie so verbreitet wie heute

Haidt und Lukianoff schreiben, dass jetzt die Jahrgänge in den Hörsälen sitzen, die von ihren Eltern keine Sekunde mehr aus den Augen gelassen wurden. Ab den frühen Achtzigern wurden in den USA die Bilder entführter Kinder auf die Milchpackungen gedruckt, gleichzeitig wurde mit den Cornflakes schon das Ritalin geradezu zugefüttert. Noch nie seien seelische Probleme unter Studenten so verbreitet gewesen wie heute - diagnostizierte wie nur behauptete. Es klingt ein wenig nach Europa um 1900, als die Neurasthenie in Mode war unter den gebildeten Ständen. Diese Studentengeneration verlange, dass die Universität ein "safe space" sei, worunter man sich offenbar eine Mischung aus verlängertem Elternhaus und psychiatrischem Sanatorium vorzustellen hat.

Haidt und Lukianoff finden diesen Hang zur Schmerzvermeidung in psychologischer Hinsicht eher fatal und fragen ob die Universität nicht vor allem auf das Leben danach vorbereiten sollte, wo es dann leider auch mal ein bisschen weniger nett zugehen könne. Aber das ist eben exakt die Frage, die von aktivistischen Studenten seit jeher genau anders herum beantwortet wird: Die Universität als der Ort, der das Leben danach vorbereitet - nämlich eines, das dann möglichst den Vorstellungen dieser Studenten gleicht.

Verglichen damit scheint die Aufregung um einen bayerischen Minister, dem das Wort "Neger" entfährt, auf einem anderen Stern stattzufinden. Aber natürlich gibt es aufschlussreiche Parallelen, wo immer "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen" ein Kommentar ist, der sich als Schlachtruf der Meinungsfreiheit versteht.

Während nämlich der Atlantic Monthly seine Beschwerde über die neuen Empfindlichkeits-Savonarolas brachte, erschien im New Yorker ein Essay von Kelefa Sanneh, der den ewigen Kampf der Amerikaner um den Fetisch der "free speech" zusammenfasst. Dass die Linke mit ihren moralisierenden Sprechverboten in und außerhalb der Universitäten die Meinungsfreiheit "kille", ist ein alter Befund, mit dem sich immer wieder Bestseller schreiben lassen. Fast genauso alt ist aber auch schon die Gegenrede, wonach die Meinungsfreiheit ein Kampfbegriff derer geworden sei, die vor allem weiterhin unbehelligt Dinge von sich geben wollen, die heute allgemein als diskriminierend gelten.

Wann immer man heute einen der erstaunlich vielen Amerikaner, die Donald Trump gern als Präsident sähen, danach fragt, was er an dem Mann bloß findet, hört man regelmäßig dies: "Der sagt, wie es ist." Und wie es ist, das will offenbar grundsätzlich besonders kernig und krachledern ausgedrückt sein. Es scheint darin eine Sehnsucht nach urtümlicher Unverstelltheit auf, die auch in Deutschland seit der Romantik ihre Freunde hat.

Die Amerikaner sagen, bevor oder nachdem sie derb werden, gern "Pardon my French". Das ist zumindest selbstironischer als unser michelmäßiges "auf gut Deutsch gesagt", womit der teutonische Stammtisch immerhin stets eine Restreferenz an die Freiheitskriege in seine Lagebeschreibungen eingebaut bekommt. Als sich Sigmar Gabriel und Joachim Gauck zu ihren Äußerungen über "Pack" und "Dunkeldeutschland" hinreißen ließen, befanden sie sich offenbar in einem bizarren Volkstümlichkeitswettbewerb, und zwar nicht mit Donald Trump, sondern eben exakt mit dem "Pack" (ehemals die Zielgruppe der SPD) aus "Dunkeldeutschland" (ehemals das, woher auch Gauck kommt).

Diesem wiederum muss man zwei Dinge lassen: Wenn es in Deutschland eine Entsprechung zu den sogenannten Rednecks gibt, jenen amerikanischen Hinterwäldlern, die aggressiv stolz sind auf ihre Primitivität, ihr Provinzlertum und vor allem ihre maximale Ferne zur Welt der Universitäten, dann hat es in Freital und Heidenau die Stimme erhoben, und aus dieser Stimme sprach ein beeindruckendes Bewusstsein dafür, dass man das "Volk"- wie das "Deutsch"-Sein auch durch ein ganz althergebrachtes Klischee beteuern kann: hemmungslose Vulgarität. Allein dieses Youtube-Video, auf dem Angela Merkel beschimpft wird, als ginge es gar nicht darum, dass Merkel irgendwas davon versteht, sondern um ein selbstzufrieden grunzendes Suhlen im Dialekt und im Skatologischen.

Das Grölen ist der genaue Gegensatz der Sprachpolitik - eigentlich

Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat Martin Luther höchstwahrscheinlich niemanden jemals gefragt. Aber denen, die ihm das aus bestimmten Interessen untergeschoben haben, hätte man immer schon antworten können: Weil man irgendwann halt lernen sollte, die oberen wie die unteren Schleusen zu kontrollieren. Außer man will jemanden durch sein schlechtes Benehmen zeigen, wie sehr man auf ihn und den Prozess der Zivilisation insgesamt - tja, was wohl? (Neutral formuliert: verzichten könnte.)

Das höhnische, sich der eigenen Hässlichkeit offensichtlich vollständig bewusste Grölen vor den deutschen Flüchtlingsheimen ist so ziemlich der größte denkbare Gegensatz zu einer Sprachpolitik, die , wie an den amerikanischen Universitäten, schon das schiere Benennen von Problematischem ächten und einem die Welt zum Teletubbyland flachreden will. Schön wäre, wenn man sagen könnte, dass sie sich gegenüberliegen wie Himmel und Hölle. Es sind aber beides Höllen. Und das Schlimme für alle dazwischen ist: Sie antworten, wie es aussieht, aufeinander.

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Quelle:
SZ vom 05.09.2015/aper/fie
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