Rio Reiser zum 60.:"Die haben Rio vor ihren Karren gespannt"

Rio Reiser lebte für die Musik und starb einsam. Sein Bruder Gert C. Möbius über einen Mann, der zu viel gab und zu wenig bekam.

Anna Kessler

Für die Linken war er Aushängeschild. Und auch die Schwulen feierten ihn. Am 9. Januar wäre Rio Reiser alias Ralph Christian Möbius 60 Jahre alt geworden. Das Schwule Museum Berlin hat ihm eine Ausstellung gewidmet. "Allein unter Heteros" zeigt bisher unveröffentlichte Polaroids und Seiten aus dem Tagebuch des Sängers. Sein Bruder Gert C. Möbius sprach mit sueddeutsche.de über den König von Deutschland, der nie ein Vorbild sein wollte und nie wirklich glücklich war.

Rio Reiser zum 60.: Die Männer, in die Rio Reiser wirklich verliebt war, sind alle an Drogen gestorben. Das waren drei oder vier.

Die Männer, in die Rio Reiser wirklich verliebt war, sind alle an Drogen gestorben. Das waren drei oder vier.

(Foto: Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Herr Möbius, Ihr Bruder hat aus seiner Homosexualität kein Geheimnis gemacht, ist damit aber auch nicht hausieren gegangen. Was würde er über die Ausstellung über ihn im Schwulen Museum denken?

Gert C. Möbius: Das wäre ihm egal gewesen. Einmal war er in Berlin bei einer Schwulengruppe, da wollte er wollte unbedingt hin. "Nie wieder", sagte er danach. Die Homosexualität als bürokratischen Verein zu betreiben, damit wollte er nichts zu tun haben. Außerdem wollte er sein Privatleben lieber für sich behalten.

sueddeutsche.de: Hatte er Angst, sich öffentlich als schwul zu outen?

Möbius: Der Manager von Rio, George Glueck, hat gesagt: "Wenn du dich outest, dann wäre ich mal vorsichtig mit deiner Karriere." Und als Rio gesagt hat, er will in die PDS eintreten, hat George gesagt: "Wenn du das machst, dann musst du aber von Gregor Gysi mindestens acht Millionen verlangen, damit kommst du die nächsten Jahre über die Runden. Die spielen dich dann nicht mehr."

sueddeutsche.de: Ihr Bruder hat mit 14 Jahren angefangen, Tagebuch zu schreiben, ein paar Seiten haben Sie für die Ausstellung zur Verfügung gestellt. Haben Sie alle Bücher gelesen?

Möbius: Nicht alle. Und auch die erst vor kurzem. Mir war das immer zu intim. Jetzt beim Lesen war ich erstaunt, wie ehrlich er über sich schreibt. Sein Gefühlsleben hat er bis ins Detail ausgebreitet. Ich würde das nicht tun.

sueddeutsche.de: Wie stand es um sein Gefühlsleben?

Möbius: Ich will nicht sagen, dass er unglücklich war, aber er hatte Probleme mit Freunden. Beim Lesen ist mir klargeworden, dass er doch ganz schöne Schwierigkeiten hatte. Die Männer, in die er wirklich verliebt war, sind alle an Drogen gestorben. Das waren drei oder vier.

sueddeutsche.de: Was für Schwierigkeiten waren das?

Möbius: Mit den Männern hat es nie so hingehauen, wie er sich das vorgestellt hat. Er war auch kein einfacher Kandidat. Die Musik stand bei ihm zu sehr im Vordergrund. Er war auch ziemlich weggetreten, hat manchmal tagelang durchgearbeitet.

sueddeutsche.de: Ihr Bruder beschreibt in einem Buch, wie klar er die Welt gesehen hat, wenn er Drogen genommen hat.

Möbius: 1968 haben Rio und ich zum ersten Mal einen Joint geraucht. Mit Musik und Kerzen, da waren auch ein paar Leute dabei. Es hat uns interessiert, welche Erfahrungen man dann macht, musikalisch, optisch, von den Gerüchen her.

sueddeutsche.de: Und?

Möbius: Die Drogen haben uns noch näher zusammengebracht. Man taucht ein in eine ganz andere Welt. Man schaut noch tiefer in die Menschen. Ich will nicht sagen, dass jeder Lehrer und jeder Politiker mal einen Joint genommen haben muss, aber schlecht wäre es nicht. Man glaubt, hinter die Kulissen gucken zu können.

sueddeutsche.de: War er vielleicht einfach nicht der Mensch, der sich nach einer festen Beziehung sehnt?

Möbius: Er hätte gerne eine feste Beziehung gehabt, da bin ich mir sicher. Es ist aber nicht so leicht, wenn man einen Namen hat oder Geld. Dabei hatte er ja nicht mal Geld. Er hat es bekommen und gleich wieder ausgegeben oder verschenkt.

sueddeutsche.de: Hat er sich ausnutzen lassen?

Möbius: Er war großzügig, hat Leute eingeladen. Aus Geld hat er sich nichts gemacht. Aber er hatte auch viele Freunde, die nur wegen des Geldes mit ihm zusammen waren. Einer seiner Freunde hat auch nach Rios Tod fast jeden Tag Geld von Rios Konto abgehoben. Ich hab das immer an den Kontoauszügen gesehen.

sueddeutsche.de: Mit seiner Band Ton Steine Scherben saß er irgendwann auf einem Berg Schulden. Wie kam es dazu?

Möbius: Das Problem war der Anspruch. Die Scherben spielen ja nicht wegen Geld. Sondern weil sie eine Botschaft bringen wollen. Die anderen sind Popkünstler, die brauchen Geld. Und das war das Problem bei den Scherben, darum konnten sie es nicht schaffen.

sueddeutsche.de: Die Linken haben die Band gerne vor ihren Karren gespannt. Hat Ihrem Bruder das nicht gestunken?

Möbius: Rio und die Band wurden von so vielen Leuten vor den Karren gespannt. Zu Rio kamen immer Leute aus linken Parteien und wollten Songs für ihre Aktionen. Dabei interessierten ihn die Parteien überhaupt nicht.

sueddeutsche.de: Nach der Wende ist er dennoch in die PDS eingetreten. Warum?

Möbius: Weil er meinte, dass die ehemalige DDR vom Westen über den Tisch gezogen werde. Aber mit seiner Rolle dort war er nicht zufrieden. Er hat immer geglaubt, er könnte Einfluss nehmen auf so eine Partei. Das interessierte die aber gar nicht. Die wollten nur, dass er im Wahlkampf spielt. Das war's. Er sollte sich auf keinen Fall in ihre Politik einmischen. Rio hat irgendwann auch einen Brief geschrieben an Gregor Gysi. Darin hat er sich darüber beschwert, dass die Partei ihn gar nicht anhören würde, wenn er mal eine Meinung hätte zu einem Thema.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Rios Bruder seinen Tod erlebt hat.>

Es war ein sehr heißer Tag

sueddeutsche.de: Die PDS gibt es ja nicht mehr, würde Rio heute die Linken wählen?

Möbius: Auf jeden Fall. Weil er gegen den Afghanistankrieg wäre. Er hätte sich garantiert eher bei denen engagiert und nicht bei den Grünen.

sueddeutsche.de: Claudia Roth, die heutige Bundesvorsitzende der Grünen, war früher Managerin von Ton Steine Scherben. Wie kam sie zu den Grünen?

Möbius: Die haben morgens zusammen am Frühstückstisch gegessen, die Scherben hatten sich gerade aufgelöst. Claudia guckte in die taz rein, da stand eine Anzeige der Grünen, die suchten einen Pressesprecher. Rio hat gesagt: "Moment mal, das ist ja genau das Richtige für dich."

sueddeutsche.de: Warum hat er das gesagt?

Möbius: Er wollte die sowieso loswerden. (lacht) Dann hat sie da angerufen und erzählt, dass sie die Scherben gemanagt hätte. Kurz drauf hatte sie den Job.

sueddeutsche.de: Ein paar Leute werfen Rio Reiser vor, dass er sich mit "König von Deutschland" an die Plattenindustrie verkauft hätte, weil der Text unpolitisch sei.

Möbius: Wenn die Texte nicht schon vordergründig politisch waren, hieß es sofort: Verrat. Aber Rio war ja kein oberflächlicher Musiker, das ist ja völliger Blödsinn. Wenn sich Menschen ändern, ist das für mich kein Verrat. Man kann ja nicht sein Leben lang immer die gleiche Musik machen.

sueddeutsche.de: Rio hat schon als Kind in der Bibel gelesen. Was faszinierte ihn daran?

Möbius: Er hat sich sehr für Religionen interessiert. Judentum, Islam, Buddhismus. Was ihn an Christus imponierte, war dieses revolutionäre, dieses hedonistische Liebe-deinen-Nächsten. In seinen Texten kommt das immer wieder vor. Er war kein Anhänger des Papstes, sondern christlich im Sinne von Christus, der versucht hat, den Menschen auf einen besseren Weg zu führen. Er konnte die Bibel fast auswendig. Auch an seinem letzten Lebenstag war ein Lesezeichen drin.

sueddeutsche.de: An welcher Stelle?

Möbius: Das Buch Sirach, die Apokryphen: "Die Augen des Herrn ruhen auf denen, die ihn lieben; / er ist ein starker Schild, eine mächtige Stütze, / Schutz vor dem Glutwind, / Schatten in der Mittagshitze, / Halt vor dem Straucheln, Hilfe vor dem Fall."

sueddeutsche.de: Wo fühlte Rio sich zu Hause?

Möbius: Ich denke, Hessen war ein Stück Heimat. Wir wohnten früher zwei Jahre in Nieder-Roden. Da hat er die ersten Freundschaften gehabt, die dann auch lange gehalten haben. Der Kern von Nieder-Roden kam nach Berlin, komischerweise. Hessen hat ihn immer wieder fasziniert. Er konnte alle Dialekte nachmachen. In Berlin hat er sich nicht heimisch gefühlt. Obwohl er da lange gelebt hat.

sueddeutsche.de: 1975 ist Rio aufs Land ins nordfriesische Fresenhagen gezogen. Warum wollte er weg aus Berlin?

Möbius: Das war ihm alles zu viel mit den ganzen Parteien und Benefiz in Berlin. Es waren damals einige Leute von der "Bewegung 2. Juni" und der RAF in seinem Umfeld. Vorher waren das Freunde, mit denen er sich in Kneipen getroffen hat. Und plötzlich waren die im bewaffneten Widerstand, kamen mit Knarren an. Distanzieren war da nicht immer so einfach. Rio wollte auf keinen Fall in den Knast kommen.

sueddeutsche.de: Konnte er auch allein sein?

Möbius: Er hat sich viel eingeschlossen. Manchmal kam er tagelang nicht raus aus dem Zimmer, weil er sich auf sich selber konzentrieren wollte und hat Texte geschrieben. Auch wer ihn unbedingt sprechen wollte, hatte da keine Chance.

sueddeutsche.de: Wie haben Sie seinen Tod erlebt?

Möbius: Als ich abends kam, war er schon nicht mehr da, die hatten ihn schon abgeholt. Am nächsten Morgen bin ich zum Krankenhausarzt gefahren. Er sagte mir, dass Rio nicht hätte sterben brauchen, wenn er jemanden gehabt hätte, der ihn rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht hätte. Ein Freund, der da war, hatte gerade den Hund ausgeführt. In der Zeit muss es passiert sein, Kreislaufversagen. Es war ein sehr heißer Tag, über 30 Grad.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: