Süddeutsche Zeitung

Musikprojekt mit Kent Nagano:Fragt Wagner!

Ritterbratsche und Altoboe: Das Ensemble Concerto Köln will den ersten "Ring des Nibelungen" in historischer Aufführungspraxis stemmen.

Von Michael Stallknecht

Eine echte "Schnapsidee" sei die Sache gewesen, sagt Alexander Scherf, der künstlerische Leiter des Orchesters Concerto Köln. Nach einem gemeinsamen Konzert habe das Ensemble noch mit Kent Nagano zusammengesessen, als der Kontrabassist den Dirigenten fragte, wann er denn endlich einmal bei ihnen Richard Wagners "Ring des Nibelungen" dirigiere. Es war ein typischer Musikerwitz, schließlich ist Concerto Köln vor allem mit Musik des 18., allenfalls noch frühen 19. Jahrhunderts in historischer Aufführungspraxis bekannt geworden. Womit allerdings niemand gerechnet hatte: Nagano, der als eher nüchtern, aber durchaus tatkräftig gilt, faszinierte die Idee so sehr, dass er Ernst machen wollte.

Die historische Aufführungspraxis ist in den letzten Jahren immer weiter bis an die Grenze zur Moderne vorgedrungen, auch bei Wagner gab es schon vereinzelte Vorstöße. So hat der Dirigent Thomas Hengelbrock einen "Parsifal" in historisch informierter Aufführungspraxis realisiert. Und die Dirigenten Bruno Weil und Marc Minkowski brachten ihre Erfahrung mit der Alten Musik in Aufführungen des "Fliegenden Holländer" ein. Auch ein Allrounder wie Simon Rattle näherte sich dem zweiten Akt von "Tristan und Isolde" schon einmal mit historischen Spieltechniken. Und dass der Dirigent Hartmut Haenchen beim "Parsifal" 2016 in Bayreuth hunderte Korrekturen und neue Vortragsanweisungen im Notenmaterial anbrachte, durfte man als vorsichtige Öffnung für solche Ansätze im Allerheiligsten der Wagner-Pflege begreifen. Doch an den 15- bis 16-stündigen "Ring" hat sich bislang niemand gewagt. Concerto Köln wird also das erste Ensemble sein, das dieses im Jahr 1876 uraufgeführte Werk wieder auf Darmsaiten spielt. Von 2021 an will es, beginnend mit dem "Rheingold", sukzessive den gesamten Zyklus in halbszenischen Aufführungen in der Kölner Philharmonie präsentieren.

Dem Komponisten war die Sprache sehr wichtig - er achtete sogar auf einzelne Konsonanten

Es ist ein Projekt, das etwas vom Kampf Siegfrieds gegen den Drachen im dritten Teil der Tetralogie hat. Schließlich besteht Concerto Köln im Kern nur aus 20 fest engagierten Musikern, für den "Ring" aber braucht es mehr als hundert. Dazu wird man neben sämtlichen Aushilfen auch Studenten des Instituts für Alte Musik der Kölner Musikhochschule mobilisieren. Kent Nagano wiederum kann zwar viel Erfahrung mit Wagner vorweisen, ist aber bisher nicht gerade als Experte in der historischen Aufführungspraxis hervorgetreten. Zwei sehr ungleiche Partner müssen da also von zwei verschiedenen Enden zueinanderfinden. In der Kölner Philharmonie nähern sie sich deshalb momentan gemeinsam in mehreren Vorbereitungskonzerten Musik von Wagner und seinen Zeitgenossen an.

Doch nicht nur praktisch, auch theoretisch will man die Sache gründlich vorbereiten, was das Projekt über die bisherigen Vorstöße heraushebt. Unter dem Übertitel "Wagner-Lesarten" kooperiert Concerto Köln neben der Kölner Musikhochschule mit dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth sowie dem Institut für Sprechwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Land und Kunststiftung Nordrhein-Westfalen haben Geld nicht nur für erweiterte Probenzeiten, sondern auch für eine Habilitationsstelle- und eine Promotionsstelle bereitgestellt. Kai Hinrich Müller, der wissenschaftliche Leiter der "Wagner-Lesarten", sieht etwa in den Notaten von Wagners Uraufführungsassistenten "ein Arsenal an Wissen, das oft nicht abgerufen" werde. Eine weitere wichtige Quelle ist das umfangreiche Korpus von Wagners gesammelten Schriften, die in der Rezeption bisher oft vom Werk getrennt worden sind.

Beim Singen hatte die dramatische Gestaltung Vorrang vor dem reinen Klang

Dabei äußert sich Wagner darin immer wieder konkret zu aufführungspraktischen Fragen, beispielsweise zu solchen der Aussprache, bis hin zum Umgang mit einzelnen Konsonanten. Wie eng seine Bemühungen hier mit der Herausbildung eines Standardbühnendeutsch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwoben waren, konnte man kürzlich bei einer Tagung des renommierten Hallenser Instituts für Sprechwissenschaft lernen. So arbeitete bei den Proben für die Uraufführung des "Ring" im Jahr 1876 der Gesangspädagoge Julius Hey mit, der niemand anderes ist als "Der kleine Hey", mit dem Schauspieler bis heute das Sprechen auf der Bühne lernen.

Für die Sänger begannen die Proben mit der Deklamation des reinen Textes, was man nun auch in den vorbereitenden Sängerworkshops in Köln so halten will. Schließlich strebte Wagner nach einem neuen Musiktheaterideal, das auch beim Singen der dramatischen Gestaltung den Vorrang vor dem reinen Klang der Stimme gab. Entsprechend fordert er in seinen Schriften immer wieder maximale Deutlichkeit beim Text, "ohne welche Drama wie Musik, Rede wie Melodie gleich unverständlich bleiben, und diese dagegen dem trivialen Opernaffekte aufgeopfert werden", wie es beispielsweise in "Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth" heißt.

Dass man die Sänger bis heute in seinen Musikdramen oft nicht gut versteht, muss allerdings nicht unbedingt an einer unzureichenden Aussprache liegen. Schuld daran ist auch die größere Lautstärke moderner Instrumente, besonders wenn sie nicht wie im Bayreuther Festspielhaus unter einem Schalldeckel spielen. Das wird von Haus aus anders sein, wenn bei Concerto Köln die Streicher auf Darmsaiten spielen - auch wenn Wagner bisweilen durchaus unzufrieden mit der geringen Lautstärke war, weshalb er etwa die Bratschen durch die größere Ritterbratsche ersetzte.

Das Orchester lässt für dieses Projekt fast alle Holzblasinstrumente neu bauen

Er war ein unermüdlicher Klangtüftler. Manchmal zog er ältere Instrumente neueren vor, dann wieder entwickelte er in enger Zusammenarbeit mit Instrumentenbauern gänzlich neue. Manche davon, die Wagnertuben zum Beispiel, finden bei seiner Musik bis heute Verwendung, andere wie die Ritterbratsche und die Altoboe, die Wagner dem Englischhorn vorzog, sind in modernen Orchestern nicht mehr im Einsatz. Für Detailfragen wird sich das Kölner Projekt nicht an der Uraufführung des "Ring" orientieren, sondern an der des "Parsifal" im Jahr 1882. Diese sei "deutlich besser dokumentiert", sagt Kai Hinrich Müller.

Jedenfalls muss Concerto Köln fast alle Holzblasinstrumente vollständig neu bauen lassen, schon weil man Wagner mit einem deutlich niedrigeren Stimmton als dem heute üblichen spielen will. Bei 435 Hertz liegt das 1858 in Paris als erster Normstimmton festgelegte eingestrichene A. Allerdings argumentiert etwa der Dirigent Hartmut Haenchen, sicher einer der bis besten Kenner der Quellenlage, dass der Stimmton noch lange danach regional unterschiedlich war und teilweise sogar höher lag als heute. Haenchen steht auch der Idee skeptisch gegenüber, die Streicher bei Wagner weitgehend vibratofrei spielen zu lassen, wie es Concerto Köln für seine Aufführungen plant.

Es ist absehbar, dass manche Kölner Ansätze ähnlich umstritten sein werden, wie es mindestens in den Anfängen der historischen Aufführungspraxis für ältere Musik der Fall war. "Wir nehmen uns aus der Rezeptionsgeschichte heraus und nähern uns Wagner wie einem unbekannten Manuskript des 18. Jahrhunderts", sagt Alexander Scherf. Wie das klingt, wird sich erst ab 2021 in den Aufführungen beurteilen lassen. Der Drachenkampf hat begonnen.

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Quelle:
SZ vom 27.12.2019
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