Richard Wagner Superstar:Die Lindwurm-Diät

Wie wird man Wagnerianer? Warum sind gerade jetzt wieder derart viele Menschen Richard Wagners Musik verfallen? Ein Liebesversuch.

Hilmar Klute

Um 15.53 Uhr brettert ein gelber Mercedes den Grünen Hügel hoch, die Siegfried-Wagner-Allee glitzert von den vielen kurzen Regengüssen, welche dieser gewittrige Julifreitag auf Bayreuth geschüttet hat. Der Mercedes hält links vor dem Festspielhaus, die Autotüren gehen auf, und in dem Augenblick kommt ein sehr aufgeregter Mann aus dem Foyer gerannt und ruft, die Herrschaften möchten bitte sofort aus dem Mercedes aussteigen, ach was, rausspringen sollen sie; er, der Aufgeregte, würde den Wagen schon irgendwo parken, kurz: Es gelte, keine Sekunde Zeit zu verlieren, wenn die beiden Verspäteten noch glücklich in die Generalprobe kommen möchten.

Richard Wagner Superstar: Es sind nicht ein paar Verschworene, die Richard Wagner lieben. Es sind unzählig viele.

Es sind nicht ein paar Verschworene, die Richard Wagner lieben. Es sind unzählig viele.

(Foto: Foto: ddp)

Was für eine herrlich groteske Dramatik, was für eine Aufregung, und, Götter, welch eine Niederlage, wenn derart wagneresk montierte Herrschaften aus einem beinahe noch fahrenden Wagen hechten und zuschauen müssen, wie die Holztüren erbarmungslos vor ihren Augen zugehen und die lieben jungen Türschließerinnen mit mitleidigem Lächeln ihr Bedauern ausdrücken; so muss ein Katholik fühlen, der vor der Himmelstür steht und aus dramaturgischen Gründen nicht mehr reingelassen wird.

In Bayreuth hat immerhin die Generalprobe zu "Tristan und Isolde" begonnen - eine Woche vor der Premiere am 25. Juli, der Eröffnung der Bayreuther Festspiele. Auf den Holzstühlen mit den dünnen braunen Polstern sitzen Leute, die seit Monaten darauf gewartet haben, fünf Stunden lang zuzusehen, wie sich ein Mann und eine Frau, die sich aus politischen Gründen hassen, aufgrund der unbewussten Verkostung eines Liebestranks einander derart verfallen, dass sie am Ende gemeinsam sterben.

Was muss man tun, um dieses kaum messbare Glück dabei zu empfinden, viele Stunden lang einer Musik zuzuhören, die einem nicht fein und freundlich, gegebenenfalls sogar spritzig und elegant im Ohr klingt, sondern vielmehr dermaßen mächtig und düster im ganzen Kopf dröhnt, bis man sich so fühlt, als sei man von einem finsteren Gott eine Stunde lang aufs gröbste gemaßregelt worden?

Wie muss ein Mensch beschaffen sein, der sich vier Tage hintereinander einer Opern-Tetralogie ausliefert, in welcher alberne junge Wasserweiber einen bösen Zwerg necken, der sie in der Folge ihres gewaltigen Goldschatzes beraubt; in welcher Götter mit Riesen sonderbare Verträge haben, diese aus einer Laune heraus nicht halten wollen und zur Strafe dafür selber sehr ungöttliche Anstrengungen unternehmen müssen, um an Lösegelder zu kommen?

Vier Tage lang Lindwürmer, Tarnkappen, Vergessensgetränke, ein Knabe, der richtige Schwerter zerschlägt wie andere Kinder ihr Spielzeug und ein brennender Felsen mit einer schlafenden Frau drin? Eine knappe Arbeitswoche lang diese Mixtur aus einer jenseits der Wagner-Welt nicht existenten Kunstsprache, aus symbolisch-mystischen Bezugszusammenhängen und einer den Text treibenden, in ihrer Wucht oft geradezu körperlich fordernden Musik? Und es sind ja nicht ein paar Verschworene, die Wagner lieben. Es sind unzählig viele.

Die Antwort ist eigentlich sehr einfach: Man muss auf Wagner - wie übrigens auch auf viele andere wichtige, einschneidende Erfahrungen im Leben - vorbereitet sein. Ich habe einige Jahre lang sehr fahrlässig an Wagneraufführungen teilgenommen, Langeweile und Überdruss verspürt und am Ende den kleinen, im Nachhinein wohl als einigermaßen tölpelhaft zu bewertenden Triumph verspürt, die vermeintliche unfreiwillige Komik der Wagner'schen Sprache in Verbindung mit dem dramatischen Musik-Gewirbel verspotten zu können.

Aber das, wie gesagt, ist die einfache Lösung. Die etwas aufwendigere sieht vor, sich mit Textheft und gegebenenfalls Klavierauszug hinzusetzen und mutig in den Ring zu steigen wie Siegfried in die Neidhöhle. Wer das tut, wird innerhalb sehr kurzer Zeit die Erfahrung machen, sich eine Weile in einem ungeheuer dynamischen Kosmos aufzuhalten, dessen Verwaltungskräfte so stark sind, dass sie einen bis zum Ende fest an das Geschehen und an die Musik binden.

Von Woody Allen gibt es einen Satz, der nur vordergründig kabarettistisch ist, grundsätzlich aber die Lage des Wagnerhörers pointiert und klug bündelt: "Jedesmal wenn ich Wagner höre, habe ich das Bedürfnis, in Polen einzumarschieren." Einerseits spielt das Bonmot natürlich auf Hitlers verqueres Wagnertum an, das vor allem mit dessen Rezeption des Rings zu tun hatte, welche 1945 dazu führte, dass der Führer sein Reich im Rahmen einer Wotan'schen Götterdämmerung untergehen lassen wollte. Aber Woody Allen sagt auch: Man ist wagnerhörend und -sehend gefährlichen Empfindungen ausgesetzt, muss sich sagen lassen, dass der Tod gegebenenfalls eine tolle Lösung ist; man bewegt sich in einer Welt voller großartiger Kampfangebote und sympathisiert letztlich mit der Überzeugung, dass es schon nicht schlecht wäre, das schöne, trotz mancher Verwirrungen doch vorzuziehende Götterreich gegen die Kleinheit und Niedertracht in Gestalt der blöden goldgierigen Zwergenbrüder zu verteidigen.

Gegen Macht, gegen Geldgier, gegen Lieblosigkeit

So könnte man argumentieren, wenn man sich via Flapsigkeit aus dem komplexen Gebäude des Rings in ein greifbares Erklärungsmodell flüchten möchte, aber es gibt doch schon so viele Versuche, bequeme Trampelpfade zu Wagners Werk zu finden - in Form von Wagnerführern für die Westentasche, in Gestalt von parodistischen Witzbüchern und altherrenhaften Bayreuth-für-Anfänger-Bändchen bis hin zu großen, psychologisch motivierten Interpretationsversuchen.

"Was Gespräche über Wagner so quälend macht, ist, dass so viele Leute schon so viel Kluges, Emphatisches oder abgrundtief Dummes darüber geredet haben." Der Schriftsteller Tilman Spengler sagt, nein, er seufzt diesen Satz in einem Gartenrestaurant wenige Schritte entfernt vom Richard-Wagner-Denkmal neben dem Prinzregententheater, welches nach Wagners Tod Anlaufstelle für die Münchner Wagnerianer werden sollte - sehr zum Missfallen von Wagners Witwe Cosima, die Konkurrenz zu Bayreuth witterte. Aber das nur nebenbei.

Spengler selbst ist Wagnerianer in zweierlei Hinsicht: als Ehemann der Schauspielerin Daphne Wagner ist er Mitglied der Wagner-Familie und dadurch, wie er selbst sagt, in der günstigen Lage, mühelos an Bayreuth-Karten zu gelangen. Zum anderen erklärt er, als Wagnerhörer und -seher der Deutungsmanie überdrüssig zu sein: "Diese psychologischen Aufbereitungen, warum diese Helden nur so können und nicht anders und warum das schicksalhaft ist. Das ist", sagt Spengler, "so eine Psychohistoire - da wird mir immer ein bisschen blümerant." Und wo nicht? In Bayreuth. "Der Zauber", so Spengler, "erschließt sich am Ort."

An diesem gewittrigen Julifreitag kommen all diejenigen, die es pünktlich in die Generalprobe geschafft haben, in der Pause sehr glücklich aus dem Festspielhaus in die nüchterne, dem architektonischen Charme der sechziger Jahre verpflichtete Cafeteria - "Des seimigen Metes süßen Trank mög'st du mir nicht verschmähn", mahnt Sieglinde den Siegmund in der Walküre. Aber viele trinken hier nur Mineralwasser, um das Konzentrationsniveau über die gesamte Aufführungslänge zu halten. Ein Wagnerianer der ersten Stunde ist unter ihnen, der Vorsitzende der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth, Karl Gerhard Schmidt, dessen, sagen wir einmal: partiell einflussnehmendes Mäzenatentum auch mit dazu beigetragen hat, dass die Festspiele seit zwei Jahren von den Halbschwestern Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier und nicht von deren Cousine Nike Wagner geleitet werden.

Und weil Schmidt vor kurzem mit seiner Bank, der SchmidtBank, pleitegegangen ist, geht an ihn jetzt die Frage, ob ihm Wagners Rheingold nicht doch deutlicher Gleichnis ist als branchenfremden Hörern. Oh ja doch, sagt Schmidt, es sei dies ein großes gesellschaftliches Stück "gegen Macht, gegen Geldgier, gegen Lieblosigkeit". Zudem empfinde er den gesamten Ring als Mehr-Generationengeschichte, wie sie auch im wirklichen Leben stattfinde - nicht zuletzt bei der Familie Wagner selbst.

Und an dieser Stelle ist es ganz passend, dass sich Frau Scholz freundlich aus der Menge der Festspielgäste löst, denn Anna Scholz' Wagnerianertum ist eng mit der Familie Wagner verknüpft. Ihr verstorbener Mann war kaufmännischer Verwalter in Bayreuth, und sie selbst diente dem Festspielbetrieb über Jahrzehnte als Schneiderin. Noch zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes sei Wolfgang Wagner jedes Weihnachten zu ihr nach Hause gekommen, um ihr ein Buch zu schenken. Und dann die Erinnerungen an die Konzertreisen, die Aufführungen, die Dirigenten... - natürlich hört man mit einem gewissen Neid diesen seligen Erinnerungen zu, denn Frau Scholz hatte es leichter als wir, die wir unser Wagnerianertum mühsam zu erlernen haben. Wir müssen uns hinsetzen und redlich versuchen, die musikdramaturgischen Wechselfälle zu begreifen; wir sind gezwungen, den Tannhäuser vielleicht doch zwei-, dreimal in voller Länge zu hören und dabei zu versuchen, das Motiv der Liebesfreude aus dem ersten Akt im Vorspiel zum zweiten Akt wiederzuerkennen.

Anfänglich scheitern wir bei dem Versuch, das Horn-Motiv und das Helden-Motiv in der Götterdämmerung zu unterscheiden, können aber die Tannhäuser-Ouvertüre bald vor uns hersummen, und irgendwann lassen wir uns auch nicht mehr von den Billigspöttern beeindrucken, die glucksen, dass der Gesang der Rheintochter Woglinde, "Weia, Waga! Woge du Welle!Walle zur Wiege! Wagala Weia!", albern und kindisch sei. Denen sei gesagt: Das ist es nicht. Es ist vielmehr kindisch, darüber zu lachen, und im Übrigen hat der spottbegabte Wagner-Exeget George Bernard Shaw anlässlich dieser Rheingold-Stelle das einzig Kluge über die Wasserjungfrauen geschrieben: "Sie singen keine Barkarolen oder Balladen von der Loreley und deren unseligen Anbetern, sondern trällern einfach irgendwelchen Unsinn vor sich hin, der ihnen bei der Bewegung der Wellen und im Rhythmus des Schwimmens durch den Kopf geht."

Heißt das nun, dass Wagner - wie viele sagen - überhaupt keinen Humor hatte oder dass er es im Gegenteil doch verstand, komische Elemente mit dem Ernsthaften klug zu mischen? Einige oberflächliche Hinweise gibt das Wagnermuseum im Haus Wahnfried, dem Wohnhaus des Meisters, in dessen Garten er bekanntermaßen begraben liegt. Seine Grabplatte - hier erzählen wir nichts Neues - trägt keinen Namen, weil Wagner der Ansicht war, die Welt habe zu wissen, wer hier liegt. Aber neben der Wagnergruft gibt es ein kleines Grab, das "unserem Freund Marke" gewidmet ist, und es liegt in der Natur der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Fiktion und Wirklichkeit, dass hier nicht der König von Cornwall ruht, sondern Wagners gleichnamiger Neufundländer.

Es gibt übrigens einige Fotografien, die Richard Wagner im Kreis ehrwürdig posierender Münchner und Bayreuther Künstler zeigen, und auf denen im Vordergrund ein großer Hund - sei es Marke oder der noch berühmtere Peps - mit flach auf den Boden gepresster Schnauze liegt, um die Fallhöhe von Erhabenheit und Witz zu markieren. Und noch Wieland Wagner, der Enkel, lud 1961 zu einer "zoologischen Probe" des Tannhäuser mit folgender Besetzungsliste ein: "Stier, Schwan, Kuhherde, 32 Hunde, Pferde (und Kraniche!), ausserdem Menschen." Die beiden Kraniche übrigens waren die Bühnenmeister Friedrich Kranich, Vater und Sohn.

Für die tiefergehende Beantwortung der Frage nach Wagners Komikfähigkeit kommt eine Weiterfahrt in die Oberpfalz in Betracht, nach Amberg, wo Eckhard Henscheid wohnt, der ziemlich sicher ist, vor geraumer Zeit besagte Neidhöhle, vor welcher Siegfried den zum Wurm gewandelten Fafner tötet, nahe der Burg Neidstein unweit von Rupprechtstein entdeckt zu haben.

"Komik", sagt Henscheid, "ist bei Wagner nicht allzu häufig. Er wusste natürlich, dass vieles an den Rand der Komik geht, und vieles ist auch freiwillige Komik." Zum Beispiel? "Im großtragischen Finale der Götterdämmerung, wo Komik", sagt Henscheid, "als strukturbildendes Element besonders schön nachweisbar ist."

Wo noch? Beispielsweise, so Henscheid, in der Unverhältnismäßigkeit, die dadurch entstehe, dass Wotans komplizierter Weltenerrettungsplan "in einer Viertelstunde vernichtet wird durch einen Ehestreit mit Fricka. Und in erstaunlich kurzer Zeit lässt er von seinem ganzen Projekt ab."

Aber kann es wirklich sein, dass die - auch dem Wagner-Anfänger augenscheinliche - Menschlichkeit der Götter solchen psychodynamischen Prozessen unterworfen ist, und im zweiten Akt der Götterdämmerung gelegentlich sogar als Dokument des Geschlechterhasses angesehen werden darf: "Ihr Mannen, kehret euch ab!Laßt das Weibergekeif?"

Eckhard Henscheid, selbst seit dem 14.September 1957, seinem 16. Geburtstag, Voll-Wagnerianer, und zwar anlässlich einer Siegfried-Aufführung in Nürnberg, Henscheid glaubt vielmehr, dass Richard Wagner hier dramaturgische Proportionen habe wahren wollen und zudem der Ansicht war, eine "Meineidsszene wäre an dieser Stelle noch großartig."

Als wechselweise komisch, ernsthaft, tragisch kommt sich in jedem Fall derjenige vor, der sich die Mühe macht, von der Pike auf zu einem anständigen Wagnerianertum zu gelangen. Ob er sich letztlich vom Zauber des Ortes Bayreuth Hilfestellung erwartet, ob er das Familiäre schätzt oder sein Ohr durch das stupide Lernen von Leitmotiven schult - die Wege zu Wagner sind mal so unerfreulich wie Tannhäusers Weg zum Papst und mal so zugänglich wie Isolde nach dem Genuss des Liebestranks.

Übrigens sollte man sich von der etwas deutschen Rigorosität verabschieden, dass es nur zwei Sorten Wagner-Rezipienten geben könne: diejenigen, die ihn abgrundtief lieben, und diejenigen, die ihn hassen. Nein, es gibt schon etwas dazwischen, denn man kann bei Wagner, wie bei anderen auch, manches als ganz schrecklich empfinden und anderes wiederum als sehr erhaben, schön und anrührend - seiner Größe tut dies weniger Abbruch als das böse Gerücht, welches sein Biograph Robert Gutman in dieser Angelegenheit gestreut hat, nämlich, dass diese bei Wagner lediglich 152 Zentimeter betragen und damit eine Alberich-Dimension besessen habe.

Im Bayreuther Wagnermuseum ist eigens eine kleine Ecke eingerichtet, in welcher - eigentlich macht man derlei nur bei heranwachsenden Kindern - zwei Markierungen angebracht sind, mit deren Hilfe der Winzigkeitsvorwurf gegen den Meister entkräftet werden soll. Oberhalb der Gutman'schen Messungsmär steht dick die Zahl 166,5 - "die wirkliche Körpergröße Richard Wagners, dokumentiert durch den 1849 in Zürich ausgestellten Paß. Darin heißt es: 5 Fuß 5einhalb Zoll..." - ja, ist schon gut, wir haben verstanden.

Ein bisschen jedenfalls.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: