Im Februar 1986 sollte Richard Rorty am University College in London drei Vorträge halten. Er sollte darin erläutern, warum ihm jeder philosophische "Essentialismus" so zuwider war, der das Wesen von Ich, Sprache, Gesellschaft oder Welt erkennen und freilegen wollte. Und er sollte seine Alternative der "Kontingenz" begründen: dass wir nämlich "alles, unsere Sprache, unser Bewusstsein, unsere Gemeinschaft, als Produkte von Zeit und Zufall" behandeln sollten. Hatte Rorty sich nur einen Jux geleistet, als er zustimmend Freud zitierte, der forderte, man solle "den Zufall für würdig halten, über unser Schicksal zu entscheiden"?
Von der "Kontingenz des Selbst" handelte Rortys zweiter Londoner Vortrag. Er begann ihn mit einer scheinbar harmlosen Anekdote: Als er darüber zu schreiben begann, dass auch das menschliche "Ich" über kein Zentrum, keine eigentliche Essenz und kein feststellbares Wesen verfüge, sondern nur ein variables Netz aus Überzeugungen und Wünschen sei, das sich ständig neu webt im Fluss lebensgeschichtlicher Situationen, habe er "zufällig" ein Gedicht von Philip Larkin gelesen.
Neues vom Netzwerk-Ich
Es handelte von der Angst vor dem Tod, und zwar von der konkreten Angst jedes Einzelnen, dass durch seinen Tod ausgelöscht werde, was ihm möglich und wichtig sei. Er fürchte damit zugleich und vor allem als "Schaffender", der etwas Neues tun oder beschreiben wollte, dass das Unverwechselbare verloren gehe, das sein eigenes Ich nicht als bloße Kopie oder Replik allgemeiner Typen nivellieren lasse.
Dass Rorty seine Vorlesung über die Kontingenz des Selbst mit der "zufälligen" Lektüre eines Gedichts begann, war sicher kein bloßer Zufall. Es zeigte vielmehr etwas von jenem Spielerischen, das er liebte, um für sich selbst immer wieder einen unverwechselbaren Stil zu entwickeln. Er spielte mit der Dichtung und den scheinbaren Zufällen, um gegen die philosophischen Wesenheiten und Notwendigkeiten die Individualitäten und Kontingenzen zur Sprache zu bringen, die ihn faszinierten und zu einem dezentrierten Netzwerk-"Ich" werden ließen, das immer wieder auch neue Selbstbeschreibungen erprobt.
Um Rortys Individualität gerecht zu werden, müssten also all die zufallsbedingten Prägungen dargestellt und nachgezeichnet werden, die sein Selbst bildeten. Bemerkenswerterweise hat er seinen Lesern deren Spuren nicht ganz verwischt. Denn er hat sich nie hinter der Maske eines unpersönlichen philosophischen Subjekts verborgen, dem es um die Lösung der altehrwürdigen Probleme ging, die sich ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen entziehen wollen: "Wie ist die Sprache mit der Wirklichkeit verbinden?" oder "Wo liegen die Fundamente und Grenzen der menschlichen Erkenntnis?" oder "Was ist das Wesen des Menschen?" - auf solche zeitlosen Fragen haben Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie und Moralphilosophie ihre Antworten zu geben versucht. "Vergeblich", lautete Rortys Diagnose, weil schon diese schlecht gestellten Fragen in die Irre leiteten.
Diesen Einspruch hat er 1967 in seiner Kritik am "linguistic turn" der Erkenntnistheorie zum ersten Mal formuliert. Denn auch durch die analytische Wende zur Sprache bliebe die Philosophie am Ideal einer Sprache der Erkenntnis orientiert, die die Welt, wie sie wirklich ist, adäquat abbilden soll. Übersehen werde dabei, so Rortys Kritik, die gesellschaftliche und geschichtliche Prägung der mannigfaltigen Sprachspiele, in die Menschen "kontingent" eingebunden sind.