Wir sind mit dabei, wenn Masons Beziehung scheitert. Aber würden wir das nicht noch dramatischer empfinden, wenn wir seine erste Begegnung mit Sheena (Anm. d. Red.: Zoe Graham) intensiver miterlebt hätten, oder die erste Annäherung zwischen den beiden?
Ich habe versucht, Dinge zu vermeiden, die ich schon so kannte. Die Filmgeschichte hat uns im Überfluss mit Betrachtungen über die Jugend versorgt - und mit vielen Klischees. Denn die Dinge, von denen die Menschen glauben, sie seien dramatisch, werden oft gar nicht so tief empfunden. Bei Deiner Examensfeier bist Du zum Beispiel eher so eine Art Nebendarsteller in einer größeren Inszenierung, Du spielst eine Rolle. Ich wollte aber die Momente zeigen, in denen Du wirklich mit allen Sinnen präsent bist.
Richard Linklater bei der Berlinale, bei der er für "Boyhood" mit dem silbernen Regie-Bären ausgezeichnet wurde.
(Foto: dpa)Aber jeder erinnert sich doch an die großen Inszenierungen im Leben, ob das nun der Abschlussball des Tanzkurses oder das Examen war.
Ich kann mich an meine Examensfeier erinnern, aber in meinem Gedächtnis ist sie nicht sehr stark haften geblieben. Viel lebhafter habe ich hingegen noch vor Augen, wie ich danach mit meinen Freunden rumgehangen bin, wie wir getrunken haben. Oft bleiben die kleinen Dinge hängen, die die großen Dinge umgeben. Das schätze ich auch an guter Literatur. Wenn zum Beispiel Tolstoi über die Napoleonischen Kriege schreibt, dann schildert er das Leben einfacher Leute und die Dinge, die auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen. Die Großartigkeiten, die als wichtig verkauft werden, erfüllen diesen Anspruch oft nicht, die Kleinigkeiten daneben hingegen schon.
Ging Ihr Konzept vielleicht auch auf, weil wir die Akteure in den mehr als zweieinhalb Stunden des Films recht gut kennenlernen? Einerseits sind sie alle recht eigenwillige Charaktere, andererseits erkennt fast jeder sich selbst in ihren Erfahrungen. Kann es sein, dass diese Kombination aus Speziellem und Universellem einen besonderen Reiz hat?
So funktioniert Kino: Dass der Zuschauer sich mit den Menschen identifiziert, die er vorgesetzt bekommt. Die Glaubwürdigkeit ist dabei essenziell. Du kannst Dich von einem Hauptdarsteller nicht angesprochen fühlen, wenn Du ihm nicht glaubst. Mein Ziel bei diesem Film war aber genau, den Zuschauer dazu zu bringen, sich um die Akteure zu sorgen, dass er ihnen glaubt, dass er in sie investiert. Jede weitere Minute, die er dabei bleibt, investiert er weiter in ihr Leben.
Die große Normalität hält den Zuschauer also ausnahmsweise bei der Stange, weil sie so glaubwürdig ist. Oft argumentieren Regisseure genau anders herum. Sie sagen, dass der Zuschauer im Kino das besonders Dramatische oder Lustige erwarte, Gags, Gewalt oder Sex.
Ich hoffe, der Film ist für den Zuschauer immer gerade noch lustig genug, um bei der Stange zu bleiben. Meiner Meinung nach ergibt sich durch das Miterleben der verstreichenden Zeit ein kumulativer Effekt. Und am Ende hast Du dann jede Menge in all diese Kleinigkeiten investiert. Da verlässt ein Kind das Elternhaus und geht auf's College. Wenn ich das jetzt so sage, denkt jeder, das sei nichts Besonderes. Jeder macht das schließlich. Aber für die Zuschauer von "Boyhood" ist es etwas Außergewöhnliches, denn sie haben viel Anteilnahme reingesteckt. Und sie fangen an, darüber nachzudenken, was die Trennung von Kindern und Eltern bedeutet. Genau das will der Film erreichen.
Hält Ihr Film neben dieser Nachdenklichkeit, zu der Sie das Publikum animieren wollen, eine Botschaft bereit?
Ich weiß nicht, ob es diese eine zentrale Botschaft gibt. Die Leute nehmen sich heraus, was sie wollen, je nachdem, wo sie selbst im Leben gerade stehen. Aber wenn ich eine Botschaft benennen muss, dann wohl die, dass es auf den Moment ankommt. Also das, was der Buddhismus und andere Religionen lehren: Im Hier und Jetzt zu leben. Wir wissen alle, wie schwer das ist.
Das war wohl ein Grund dafür, dass Sie auf konkrete Hinweise verzichtet haben, die ein neues Jahr ankündigen. Zwischentitel oder Voice overs hätten den Moment unterbrochen.
Ja. Und im Leben gibt es auch keine Zwischentitel. Wir nehmen die Zeit vielmehr als etwas Dahinfließendes wahr. Ich wollte, dass wir im Film die verstreichende Zeit in etwa so empfinden, wie unser Gedächtnis die Vergangenheit bewahrt, also etwas schwammig: 'Kam dieses Lied im Herbst heraus, als ich im ersten Semester war, oder war es im Frühjahr? Ich glaube, es war im Frühjahr.' Diese Schemenhaftigkeit, die typisch ist für unsere Erinnerung, wollte ich abbilden, eine dokumentarische Genauigkeit hätte dabei nur gestört.