Süddeutsche Zeitung

Umgang mit Rezo:Arroganz statt Inhalte

Was passiert, wenn Politiker eine Medienrevolution nicht verstehen? Im schlimmsten Fall ignorieren sie die Kritik und diffamieren lieber die Protagonisten.

Gastbeitrag von Bernhard Pörksen

Jetzt, da die hektisch pulsierenden Tweets unter den Hashtags #AKKGate und #NieWiederCDU weniger werden, die Talkshows schon wieder neue Themen suchen und sich die Öffentlichkeit wie von einem Fieberschub erholt, ist der Moment gekommen, einmal genauer hinzuschauen. Was hat der Streit um das inzwischen mehr als 14 Millionen Mal aufgerufene Rezo-Video ("Die Zerstörung der CDU") gezeigt? Wie lassen sich die konfusen Reaktionen erklären, wenn man für einen Moment das Stakkato der Schlagzeilen ausblendet, das das eigentliche Geschehen eher verdeckt?

Hier offenbaren sich, so die These, Tiefeneffekte der vernetzten Welt und eine tektonische Verschiebung unserer Informationsarchitektur, die nach anderen Formen der Konfliktbeschreibung und Konfliktlösung verlangen. Man sieht, was passiert, wenn Politiker eine Medienrevolution nicht verstehen, Inszenierung mit Inhalt verwechseln und ihre Protagonisten pauschal diffamieren. Und man erlebt das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Welten wie eine Drift in Richtung des Neuen.

Es ist eine Art Zwischenreich, das hier erkennbar wird, ein Interregnum der Kommunikation, geprägt von kollidierenden Normen, konträren Organisationsformen und einer untergründigen Neusortierung der Kommunikations- und Machtverhältnisse. Welche Lehren könnten Politik und Gesellschaft aus der Aufregung der vergangenen Tage ziehen? Hier seien fünf Diagnosen im Verbund mit ein paar Vorschlägen angeboten. Es sind Notizen auf schwankendem Grund. Denn die Welt befindet sich im Übergang. Sie driftet weg von der Mediendemokratie alten Typs, die sich orientierte an publizistischen Machtzentren in Gestalt von einzelnen Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern. Und sie bewegt sich in Richtung auf eine Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters. Jeder kann sich jetzt zuschalten, jeder kann mitmachen.

Unter digitalen Bedingungen ist die Widersprüchlichkeit mit Hilfe von ein paar Links dokumentierbar

Eine Transparenz der Heuchelei scheint erkennbar. Es lohnt sich, Rezos Video immer wieder anzuschauen, langsam, wie in Zeitlupe, um dann, wenn die Augenblickseffekte ihren Reiz verlieren, das Muster zu erkennen, das diesen riesenhaften Leitartikel organisiert. Es ist ein einziger, laut in die Welt gebrüllter Vorwurf der Heuchelei und des Sich-in-die-Tasche-Lügens, der hier formuliert wird.

Wie könnt ihr, so fragt Rezo in Richtung der Regierenden, wissend, dass die Klimaschäden längst fühlbar und fassbar sind und die Zeit knapp wird, einfach so weitermachen? Man kann diese Frage ignorieren und so tun, als ginge es hier um jugendliche Naivität, fehlende Sachkompetenz und postfaktische Meinungsmache. Doch es gibt da ein Problem. Rezo greift in seinem Video auf die Statements von Wissenschaftlern zurück, er benützt Artikel aus klassischen Medien, Material aus Pressekonferenzen. Er führt vor, was er behauptet, nicht immer fehlerfrei, aber in der Summe korrekt.

Was also macht man nun da? Man kann, wie der Generalsekretär der CDU, Paul Ziemiak, erst Greta Thunberg als Ideologin attackieren, dann Rezo als Schwätzer abstempeln, ihn dann, wenn die Sache zu entgleiten droht, als sorgenvoll-empathischer Therapie-Onkel ("dein Paul") zum Gespräch einladen. Geht alles. Aber wer glaubt, dass sich die eigenen Ausweichmanöver nicht durch ein paar Twitter-Screenshots dokumentieren ließen, der versteht nicht, welche Entlarvungseffekte heute möglich sind. Allgemeiner formuliert: Unter digitalen Medienbedingungen sind die offensichtliche Widersprüchlichkeit und programmatische Hilflosigkeit bereits mit Hilfe von ein paar gut gesetzten Links dokumentierbar. Der Vorwurf der Heuchelei rückt damit ins Zentrum politischer Debatten. Inhaltliche Konsistenz und das Denken in langen, ausbuchstabierten Linien wird unter solchen Bedingungen zum Erfolgsprinzip.

Man gibt sich einer Illusion der Ignoranz hin. In der Welt der klassischen Leitmedien und der mächtigen Gatekeeper entschieden Journalistinnen und Journalisten darüber, was als interessant und relevant gelten konnte. Es war ohne allzu großen Aufwand möglich, die Grenzen des Sagbaren zu bestimmen und schon durch die Art und Weise der Äußerung eine paternalistische Stilkunde zu praktizieren: "Nur so darf man reden! Und das sind die Themen, die man überhaupt be- und verhandeln sollte!" Diese Zeiten sind vorbei.

Die unumschränkte Deutungsautorität der Gatekeeper existiert nicht mehr. Die vierte Gewalt des klassischen Journalisten wird durch die fünfte Gewalt der vernetzten Vielen ergänzt. Längst kann jeder, ein Smartphone in der Hand, Aufmerksamkeit für ein Thema organisieren, wenn es ihm gelingt, ein Publikum dafür zu finden. Die Taktiken im Umgang mit Rezo - sie reichen von draufhauen, Regeln fordern bis zur ungefragten Umarmung - stammen, aus der Vergangenheit des Gatekeeper-Zeitalters. Es sind die Reaktionsformen einer Macht, die im Interregnum der digitalen Gegenwart so angreifbar geworden ist wie nie zuvor. Und heute lässt sich eine erlebte Repräsentationskrise, ganz gleich, ob es um das Klima- oder das Flüchtlingsthema geht, nicht mehr tabuisieren, weil unabweisbar geworden ist, was andere darüber glauben und denken. Und wenn man eine Tabuisierung dennoch versucht, dann bilden sich sehr schnell über Nacht mediale Gegenöffentlichkeiten.

Man verwechselt Inszenierung und Inhalt. Manche Politiker tun so, als ginge es bei der aktuellen Auseinandersetzung um die Frage, ob man mit seinen eigenen Angeboten nicht einfach mehr auf YouTube präsent sein müsse, vielleicht sogar auf den Versand von PDF-Dateien verzichten und einfach mehr Emojis und eine Prise LOL-Rhetorik in seinen Veröffentlichungen gebrauchen solle. Ein CDU-naher Verein will nun eigene Plattform-Stars aufbauen. Ein paar Tipps dazu: schnelle Schnitte! Charts! Musik! All das könnte helfen. Der bayerische Ministerpräsident plant folglich solch einen YouTube-Kanal, so erklärte er jedenfalls am Wochenende.

Das Grundmissverständnis dieser hastigen Vorschläge liegt in der Verwechslung von Medium und Botschaft, von Inszenierung und Inhalt. Hier wird die Kritik an der Klimapolitik, am Einsatz von Drohnen oder an der Verteilung von Reichtum zum bloßen Kommunikations- und Kanalproblem umgedeutet - und sofort eine neue Kränkung produziert. Die so Angesprochenen fühlen sich völlig zu Recht als YouTube-Flippies veralbert, die sich ohnehin nicht mehr richtig konzentrieren können, wie die Älteren von uns aus den publizistischen Chefarztvisiten von Manfred Spitzer wissen. Die Kuriosität und das Ärgernis der Debatte besteht darin, dass hier junge Menschen auf einer fundierten, im Zweifel von Expertenwissen bestimmten Auseinandersetzung beharren, während sich sogenannte Polit-Profis aus der Arena der Argumente verabschieden, um den Konflikt kommunikationskosmetisch zu heilen.

Die Sofort-Skandalisierung scheint übrigens die vorrangige Reaktion zu sein. Die arrogante Abfuhr, die verklemmte Relativierung, die pauschale Abwertung, der Start einer Gegenkampagne, der Versuch von Einschüchterung und Zensur - all das kann das Entrüstungsfeuer noch einmal kräftig anheizen. Und genau das ist in den letzten Tagen passiert. Was folgt daraus? Der Umgang mit Fehlern verwandelt sich irgendwann in den einen großen, entscheidenden Fehler, der neue Autoritäts- und Reputationskrisen produziert. Hat Annegret Kramp-Karrenbauer das Zeug zur Kanzlerin? Wo will sie hin? Und was ist eigentlich ihr Programm?

Derartige Dynamiken der Eskalation sind keine Spezialität des digitalen Zeitalters, gewiss nicht. Aber heute ist jede Äußerung und jeder Versuch der Beschwichtigung selbst unmittelbar angreifbar geworden. Darum ist die reflektierte, einigermaßen konsistente Strategie im Umgang mit Peinlichkeiten, Pannen und echten Vergehen umso entscheidender. Die einfache Gesetzmäßigkeit: Je mächtiger die Protestierenden, je berechtigter ihr Protest-Anlass und je emotional wirksamer das Protest-Thema, desto rascher und glaubwürdiger muss man darauf reagieren. Hier ist es, zumal unter den Hochgeschwindigkeitsbedingungen der Netzkommunikation, fatal, auf Zeit spielen zu wollen. Die Salami-Taktik und der versuchte Schulterschluss mit mächtigen Medien - der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg konnte dies vor einer gefühlten Ewigkeit im engen Schulterschluss mit Bild-Zeitung noch vorführen, als man gemeinsam versuchte, seine Plagiate zu relativieren - all das funktioniert heute nicht mehr.

Fremdlinge mit blauen Haaren sind auf einmal in das Grillfest des Ortsvereins geplatzt

Kollektive werden durch Konnektive ersetzt. An den Beispielen der #Metoo-Bewegung, der Gelbwesten-Proteste in Frankreich, der weltweiten Aktionen des March for Our Lives oder Fridays for Future und den Unterstützern von Rezo wird deutlich: Hier bilden sich Gemeinschaften neuen Typs, Organisationen ohne Organisation, die man im Unterschied zu einem Kollektiv als Konnektiv bezeichnen könnte. Was ist damit gemeint? Ein Kollektiv - ein Unternehmen, eine beliebige Partei, ein Medienhaus - besitzt klare Innen-Außen-Grenzen, gemeinsame Strategien, erkennbare Hierarchien. Ein Konnektiv ist hingegen zugänglicher, offener für überraschende Bündnisse und neuartige Koalitionen - zum Beispiel zwischen jugendlichen Protestlern und ihren Eltern und etablierten Klimawissenschaftlern, wie im aktuellen Fall.

Das Attraktivitätsgeheimnis dieser Form von Vergemeinschaftung ist eine Mischung aus Zugehörigkeitsempfinden und persönlich-privatem Selbstausdruck, sie entsteht über eigene Bilder, Texte und Geschichten, sie wird ermöglicht durch die digitalen Medien. Wenn Kollektive (wie die CDU unter Kramp-Karrenbauer oder die Partei von Emmanuel Macron im Falle der Gelbwesten) mit Konnektiven interagieren, dann erliegen sie leicht der Illusion, es reiche aus, nur auf die Köpfe zu schauen. Dann lädt man ein paar vermeintliche Gelbwesten-Anführer oder eben Rezo ein. Das Problem: Eine derartige Form der Konfliktbesänftigung, die letztlich auf einer irreführenden Personalisierung von Netzwerkeffekten basiert, klappt, wenn überhaupt, nur in der Binnenlogik der eigenen Organisation. Ein Rezo kann nicht - nach erfolgtem Appeasement im Konrad-Adenauer-Haus - eine versammelte Mannschaft wieder auf Linie bringen.

Denn Digitalisierung heißt Dialogisierung. Wie lässt sich Kommunikation organisieren und befrieden, wenn zentralistische Strukturen vernetzten Individuen gegenüber stehen, die alle ihre eigenen Auffassungen haben? Das ist tatsächlich eine noch offene Frage. Wahrscheinlich hilft hier nur ein Maximum an Dialogbereitschaft in der Breite der Gesellschaft. Es gilt, mit wirklicher Empathie (und nicht mit gespielter Sympathie) zuzuhören und zu verstehen, was diese Fremdlinge, die jetzt mit ihren blauen Haaren aus dem fremden YouTube-Universum in das Grillfest des Ortsvereins hineingeplatzt sind, eigentlich zu sagen haben. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen: Die digitale Moderne wird entweder das Zeitalter des Dialogs sein oder in der Rückschau als eine Epoche des Aufeinandereinbrüllens erscheinen, die ganze Gesellschaften im Inneren zerrissen und die Rückkehr der Stammesfehden unter modernen Medienbedingungen hervorgebracht hat.

Der Autor ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung" im Hanser-Verlag.

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SZ vom 03.06.2019/biaz
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