Süddeutsche Zeitung

Rezension zu David Vanns "Dreck":Wenn aus Söhnen Messer werden

David Vanns Roman "Dreck" erzählt von einer Mutter, die ihren Sohn isoliert auf einer kalifornischen Walnussbaumplantage großzieht und zum Ersatzehemann macht. Es ist klar, dass etwas Furchtbares geschehen muss. Trotzdem schafft es Vann, den Leser zu überraschen.

Von Volker Harry Altwasser

Wenn ein abwesender Vater seine Exfrau aufsucht und den dreijährigen Sohn zu einem Ausflug in die Pampa mitnimmt, wenn dieser Vater sich dann in der Wildnis unerwartet seinem Versagen stellen muss, genau das aber nicht schafft, woraufhin das Kind sich mit der Pistole des Vaters in einem Moment der seelischen Überforderung selbst erschießt - dann befinden wir uns in dem in 18 Sprachen übersetzten Erstlingsroman "Im Schatten des Vaters" des Amerikaners David Vann. Mit dem Nachfolgeroman "Dreck" (Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 296 Seiten, 19,95 Euro) hat Vann nun die andere Seite beleuchtet: Hier kommt kein Vater, um den Sohn von der Mutter wegzuholen. Ein Glück für diesen Sohn, der mittlerweile, als wäre er gar nicht gestorben, 22 Jahre zählt, ist aber auch das nicht, denn Glück, Liebe und andere positiven Erfahrungen gibt es im literarischen Kosmos von David Vann nicht. Vielleicht ist gerade das unser Glück.

Der junge "Dreck"-Protagonist versteht sich als alte Seele, die wieder- und wiedergeboren worden und die vielleicht schon dreitausend oder fünftausend Jahre alt ist. So genau weiß Galen das nicht, den die Mutter nach einem Arzt der Antike benannt hat. Am Namen und momentanen Dasein liegt diesem Fänger nicht viel, der nicht im Roggen verschwindet, sondern auf einer vererbten, riesigen Walnussbaumplantage, die sich mitten in der Gluthitze einer kalifornischen Wüstenstadt befindet und mangels Pflege zu Dreck wird. Es ist die Welt der Guru-Sprüche und der diffusen Schatten, durch welche die Sonne das Leben gnadenlos zerstrahlt.

Gefängnis der Armut und Gefühlskälte

Auf dieser Plantage befinden sich lediglich Mutter und Sohn, zelebrieren täglich den Fünf-Uhr-Tee. Mit der Zeit sind sich diese beiden Außenstehenden viel zu nahegekommen, um sich noch lieben zu können. Es fehlt der Dritte im Bunde, der Ausgleich sein könnte. So ist es ein Verlauf stündlicher Demütigungen, die die Mutter mit eiserner Eigenliebe geschehen lässt, eine Bastion, die vom Sohn endlich doch eingerissen wird, woraufhin aus Eigenliebe Selbsthass wird, der niedergeht, so heftig, als würde eine ganze Wüste unter einem Regenmeer verschwinden. Die Mutter, die ihren Sohn zum Ersatzehemann machen wollte, sieht zu, wie er mit seiner minderjährigen Cousine schläft. Und nirgends ein Mann oder Vater in Sicht.

Leise stürzt die Welt der Eifersüchtigen mitsamt der Plantage ein, die der Großvater von Galen aufgebaut hat. Dieser deutsche Einwanderer brachte die Gewalt mit in die Familie, die seitdem fester Bestandteil ist. Er starb früh, hinterließ viel Geld, das Galens Mutter nun verwaltet. Das Perfide daran ist, dass sie das Geld aller Welt vorenthält und lieber in Armut lebt, um dem Sohn das Weggehen zu versperren. Galen geht nicht auf die erweiterte Schule, er studiert nicht, er erlernt keinen Beruf, er unternimmt keine Reisen, beständig baut die Mutter das Gefängnis der Armut und Gefühlskälte aus.

Worte wie Fäuste

Der Sohn ist viel zu passiv und ungebildet, um sich aufzulehnen, und begnügt sich damit, seine Gefängniswärterin täglich bis aufs Blut zu reizen. Worte sind für ihn das, was für seinen Großvater die Fäuste waren. Das zeigt sich auch in der Sprache des personalen Erzählers, denn oftmals fehlen den kurzen Sätzen die Verben. Das funktioniert auf langen Strecken recht gut. Wozu noch die Worte des Handelns benutzen, wenn es das Handeln nicht mehr gibt?

In kurzen Kapiteln ist dieses Buch wie sein Vorgänger aufgebaut, und ungefähr in der Mitte eskaliert der Konflikt. Vann vertraut erneut auf seine Dramaturgie, die er schon im Debüt meisterhaft ausgearbeitet hatte. Es ist dieser grandiose kleine Schwenk kurz vor dem Ausbruch, der dem Leser den Atem stocken lässt. Lange Zeit dachte man im Roman "Im Schatten des Vaters", dass sich dieser Vater mit seiner Waffe umbringen würde, ehe es dann der kindliche Sohn ist, der zur Tat schreitet; und genau dieses Prinzip nutzt David Vann erneut.

Man versteht, dass diese Mutter eifersüchtig ist, dass sie sich verraten fühlt, weil der Sohn und Ersatzehemann einvernehmlichen Sex mit seiner Cousine hat, die ihn aus Langeweile verführt, man begreift, dass die Mutter ihn nun wohl bestrafen wird, als sie sich seltsam entschlossen an den Teetisch im Kräutergarten setzt, aber man glaubt, sich verlesen zu haben, als sie ihm mitteilt, sie werde ihn bei der Polizei anzeigen. Er habe eine Minderjährige vergewaltigt, sie habe Beweismittel sichergestellt und gut versteckt. Er gehöre weggesperrt, weil die Welt ohne ihn besser dran sei, ihre Welt.

Galen reagiert zunächst mit der Weisheit seiner alten Seele, dann mit Sarkasmus, dann mit Wut und schließlich mit Panik, während die Mutter vor ihm flüchtet. Und plötzlich ist sie die Gefangene und zwingt dem Sohn die Rolle des Gefängniswärters auf: Sie versteckt sich in einem Schuppen, der unter der heißen Sonne steht. Galen verschließt ihn kurzerhand von außen und wird sie nicht mehr freilassen. Während die Mutter um Wasser bettelt, legt er sich in die Bewässerungsfurchen der Plantage und bedeckt seinen nackten Körper mit einer Schlammschicht. Als von der Gefangenen nichts mehr zu hören ist, vergräbt er die Leiche im Dreck.

Roman ohne Männer

Zu lang geworden ist das letzte Drittel des Romans, in dem Mutter und Sohn erbittert ihren Kampf austragen, denn es ist jämmerlich, wenn zwei passive und verantwortungslose Leute das Handeln und Verhandeln versuchen. Gerade aber in dieser so realistischen Jämmerlichkeit sind die beiden Hauptfiguren groß und großartig. David Vann hat in einem Interview gesagt, es habe in seiner eigenen Familie einige Morde und einen Selbstmord gegeben, es ist also davon auszugehen, dass diese Aufarbeitung weitergeht.

Die Männer fehlen in diesem Roman - wie auch in so vielen Familien. Ohne männliches Vorbild, ohne Mentor, Trainer, Onkel, Großvater oder Vater hat es ein Muttersohn verdammt schwer, sich gegen weibliche Erziehungsmuster durchzusetzen. Galen hat mit diesem Versuch schon früh abgeschlossen. Sein Leid ist das Überangebot "Mutter", das sich aus dem Mangel "Vater" ergibt. Galens Mord an der Mutter ist im eigentlichen Sinne kein Mord, denn aus Notwehr wird unterlassene Hilfeleistung, die tragisch endet - und genau hier gelingt Vann die Psychologie eines weggesperrten Muttersohns und Kaspar Hausers treffend.

Sie wollte ihn nicht teilen

Es ist nicht zu befürchten, dass aus diesem Freak ein Amokläufer wird, dazu ist er nicht aktiv genug. Die Mutter hatte dafür gesorgt, dass er allein und verwahrlost aufwächst. Sie wollte ihn nicht teilen, doch als dann doch die männliche Lust in ihm erwacht, da bricht für die Mutter, die nichts weiter als ihren Sohn hat, die Welt entzwei. Und, wie es Gerhard Falkner in einem Gedicht sinngemäß beschreibt: ". . ./ Vorsicht / aus Söhnen werden Messer."

Die männliche Natur sollte sich von der weiblichen Erziehung emanzipieren dürfen - schön, wenn dieser Machtkampf kanalisiert werden kann, durch Vorbilder zivilisiert, schlimm, wenn eben nicht. Im Roman "Dreck" ist der Abwesende die wahre Hauptfigur, wie in so vielen Familien. David Vanns junger Protagonist wächst mit den Lebenslügen einer Frau auf, die Mutter wurde, als sie noch ein halbes Kind war. Wofür dieser Roman mahnend eintritt, das ist die Notwendigkeit des männlichen Gegenübers. Vanns Beitrag zum Thema Alleinerziehung lautet: Vaterschaft tut not.

Der Schriftsteller Volker Harry Altwasser beschäftigt sich literarisch seit zehn Jahren mit der Rolle der Söhne von alleinerziehenden Müttern. Zuerst im Debütroman "Wie ich vom Ausschneiden loskam" (2003), zuletzt im Geschichtspanorama "Letzte Haut" (2009), im Abwrackroman "Letztes Schweigen" (2010) und im Hochseeepos "Letzte Fischer" (2011). Altwasser erhielt 2012 den Italo Svevo Preis für ästhetischen Eigensinn. Mit David Vann verbindet ihn die Erfahrung der Seefahrt als männliche Welt und das Scheitern als literarisches Prinzip.

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Quelle:
SZ vom 01.07.2013/soli
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