Süddeutsche Zeitung

Rezension:Mitschüler, Mörder

Lesezeit: 6 min

Edoardo Albinati erzählt in seinem monumentalen Roman "Die katholische Schule" von einem grausamen Verbrechen und von der Krise des italienischen Mannes.

Von Lothar Müller

Manchmal träumt der moderne Roman davon, eine ganze Welt zu umfassen, "totaler" Roman zu sein. Das dicke Buch, zu dem er dabei anschwillt, kann viele Energiequellen haben. Manchmal folgt es mit logischer Konsequenz einer Formidee, die es Schritt für Schritt an sein Ende trägt wie in Umberto Ecos "Der Name der Rose", manchmal schwillt es in eruptiven Stößen an, die sein Autor selber nicht im Griff hat, und es kommt eher aus Erschöpfung an sein Ende, nachdem es alle Formideen, die sein Anschwellen hätten bändigen können, zertrümmert hat. Ein solcher Fall ist der fast 1300 Seiten umfassende Roman "Die katholische Schule" des italienischen Autors Edoardo Albinati.

Er hat dafür im Jahr 2016 den Premio Strega erhalten, den bedeutendsten Literaturpreis Italiens. Schon zuvor war er in Italien ein bekannter Schriftsteller, der mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben hat, die meisten eher schmal, Romane, Erzählungen, Essays, Gedichtbände, Drehbücher. Dass er mit diesem monumentalen Roman zu einer Großfigur wurde, lag nicht nur am Stoff, einem großen Mord- und Vergewaltigungsfall der jüngeren italienischen Geschichte. Es lag auch an den Reflexionsspiralen, in die der Roman die Tat hineinzog und zum Symptom einer tiefen Krise der italienischen Gesellschaft machte.

Nichts bleibt in diesem dicken Buch von dieser Krise unberührt, alles wird von ihr unterminiert: die katholische Schule, die ihr den Titel gibt, das Stadtviertel, in dem sie liegt, die Lehrer und ihre Schüler, und kaum kommen deren Familien in den Blick, erfasst die Drift der Krise das italienische Bürgertum, alle Normen und Werte, denen es bisher folgte oder zu folgen schien. Im Zentrum aber steht die Krise des italienischen Mannes, ins Auge gefasst durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit für das Verbrechen, das den Glutkern des Romans bildet, aus dem alle seine Eruptionen hervorgehen.

Es fand Ende September 1975 am Monte Circeo statt, der sich wie der Fuß eines Riesen ins Tyrrhenische Meer hineinschiebt, dort, wo Römer, die es sich leisten konnten, ihre Ferien verbrachten und Wochenendhäuser hatten. Zwei Mädchen, siebzehn und neunzehn Jahre alt, wurden von jungen Männern ihres weiteren Bekanntenkreises in eine der dortigen Villen gelockt, gequält und vergewaltigt.

Eines der Opfer ertränkten die Täter nach fast eineinhalb Tagen in der Badewanne, das zweite Mädchen überlebte so schwer verletzt, dass die Täter es beim Rücktransport in die Stadt im Kofferraum eines Fiat 127 ebenfalls für tot hielten. Zwei der Täter waren ehemalige Schüler des katholischen Gymnasiums "San Leone Magno" im Quartiere Trieste um die Piazza Bologna, einem bürgerlichen Viertel jenseits der antiken sieben Hügel, das mit dem modernen Rom, der Hauptstadt des italienischen Nationalstaats, wuchs.

Edoardo Albinati ist 1956 geboren, im Quartiere Trieste aufgewachsen und auf die katholische Schule gegangen, die nach Papst Leo dem Großen benannt wurde. Das Verbrechen ist die Sonde, mit der er nach den Übergangszonen sucht, in denen in seiner Herkunftswelt aus Mitschülern Mörder wurden.

Als Entstehungszeit seines Romans gibt er auf der letzten Seite den Zeitraum vom 29. September 1975 bis zum 29. September 2015 an, als hätte er vom Tag des Verbrechens an geschrieben. Es ist aber ein Roman der Rückschau aus der Zeit nach der Jahrtausendwende, ein Roman der Selbstbefragung, der die Befragung von Journalisten einbezieht, die Zugang zu den Prozessakten hatten.

Seit mehreren Jahrzehnten arbeitet Albinati als Lehrer im Hochsicherheitstrakt der Strafvollzugsanstalt von Rebibbia, der tägliche Umgang mit Mördern gehört zum Alltag der Ich-Figur, die er entwirft. In einer Nachbemerkung legt er Wert darauf, dass diese Figur "nicht hundertprozentig mit dem Autor auf dem Schutzumschlag übereinstimmt".

Wie sollte sie auch? Kein Ich auf Papier ist vom selben Stoff wie derjenige, der das Papier beschreibt, zumal wenn unter dem Titel des Buches das Wort "Roman" steht. Einmal zur ersten Person Singular auf Papier geworden, kann es nicht anders, als literarische Formen anzunehmen oder ihnen auszuweichen.

Für die Ausweichbewegung gibt es in der Literatur der Gegenwart ein starkes Motiv, das Unbehagen an der Fiktion, die Sehnsucht, das Leben selbst zu Wort kommen zu lassen. Diese Sehnsucht kann, wie die Bücher von Karl Ove Knausgård zeigen, mit mehr oder weniger Kunstaufwand gestillt werden. Die literarische Form, die den Schein der Anwesenheit des Lebens begünstigt, heißt derzeit "Memoir", die erste Person Singular ist ihre unabdingbare Voraussetzung. Mit ihr ist sie im Lebensstoff verankert, sie ist ihr Zentrum.

Vom Erschrecken über die Nähe des eigenen, lebendigen Ich zu den Mördern und Vergewaltigern des Verbrechens am Monte Circeo, das es in die Formel "VvC" bannt, wird das schreibende Ich in Albinatis Roman vorangetrieben. Es muss Hunderte von Seiten voller Erinnerungen an die eigene Schulzeit und weit ausgreifender Reflexionsbewegungen absolvieren, ehe es auf wenigen brutalen Seiten den Tathergang rekapituliert.

Die erste Form, die es ausschlägt ist der dokumentarische Roman, in dem das Ich die Recherche eines Verbrechens mit den Mitteln des modernen Journalismus betreibt, wie in Truman Capotes "Kaltblütig". Es gibt hier keinen Besuch bei den Familien der Opfer, keine Inspektion des Tatorts durch den Erzähler, nur in Umrissen werden die Biografien der beiden Mädchen greifbar.

"Um das VvC wächst ein dicht verästelter Wald aus Verbrechen und Perversionen. Nicht alle sind blutig, keines lässlich." Um diesen Wald geht es Albinati, um das Wurzelgeflecht, das seine Herkunftswelt, sein Stadtviertel, seine Freunde und Familie mit den Mördern und Vergewaltigern verbindet. "Auch die Mörder, deren Verbrechen ich demnächst schildern werde, gehen zum Abendessen nach Hause."

Es ist das Unglück dieses Romans und seines Autors, dass er die beiden Instrumente, mit denen er das Wurzelgeflecht des Verbrechens am Monte Circeo freilegen will, nicht mit gleicher Virtuosität handhabt. Das erste Instrument ist der Blick auf die physiognomischen Details, die Erinnerung an prägende Gesten, Figuren. Immer wenn Albinati dieses Instrument zur Hand nimmt, wird sein Roman dicht und suggestiv.

Das zweite Instrument ist die essayistische, von Soziologie, Philosophie, Zeitdiagnostik und Kulturkritik genährte Reflexion. Immer wenn Albinati dieses Instrument zur Hand nimmt, droht er sich in Weitschweifigkeit bis hin zum Schwadronieren zu verlieren. Es ist dieses zweite Instrument, dem sich die Formlosigkeit des Romans verdankt.

Der grandiose Schulroman, der in diesem Monstrum von Buch steckt, verlangt eine Lektüre, die ihn aus verstreuten Bruchstücken zusammensetzt. Aus dem Porträt des hochbegabten, für die Religion der Patres gänzlich unempfänglichen Arbus und seiner Familie, aus den Lebensläufen anderer Mitschüler, die in linksradikale Sekten oder faschistische Terrorzirkel führen. Aus dem Alltag eines Gymnasiums, das eine reine Jungenschule und zugleich eine katholische Privatschule ist, deren Patres den Status von Angestellten der Eltern ihrer Zöglinge haben.

Es gibt in diesem Schulroman wie in den Internatsromanen die Quälereien der Schwachen durch ihre Mitschüler, die Not und die Lust am Sex. Es gibt die Patres, denen der Gang zu Prostituierten nicht fremd ist. Und die Züchtung einer Männlichkeit, die aus der Perspektive des Monte Circeo als Vorschule der Gewalt erscheint. Aber das Zentrum des Schulromans ist eine jener Lehrerfiguren, die sich im Rückblick als die geheimen Schutzengel ihrer Schüler erweisen. Vilfredo Cosmo heißt diese Figur hier, der Schulroman ist ein Epitaph für diesen Lehrer, ihm verdankt das Ich seine Autorschaft.

Die Aufzeichnungen dieses verarmten, von Depressionen und Krebs zerstörten Lehrers füllen einen der zehn Teile des Romans, den Verena von Koskull in allen seinen Stilschichten bis hin zu den Kalauern erfolgreich ins Deutsche geholt hat. Mag sein, Albinati hat diese Aufzeichnungen erfunden statt aus dem Nachlass gerettet. Sie bringen ein Grundmotiv auf den Punkt: "Nicht auf ihrem Zenit lassen sich Machtsysteme am besten durchschauen, sondern in ihrem Verfall, wenn es bergab geht. Moral, Ideen, Moden, politische Regimes und Glaubensprinzipien zeigen ihre wahre Natur, wenn sie unmittelbar davor sind, dem Neuen zu erliegen. Kurz vor ihrem Untergang enthüllen sie auf reinste und dramatischste Weise ihr Wesen und werden unter dem Einfluss unvorhersehbarer und deshalb um so lehrreicherer Ereignisse gänzlich durchschaubar."

Mit aphoristischer Knappheit formuliert Cosmo Sätze, die an seinen Schüler adressiert sein könnten: "Im Gegensatz zu Geschichten haben Ideen kein Ende." Und: "Ideen enden, wenn ihren Schöpfer die Kräfte verlassen." Die erste Idee, die Albinati bis zur Erschöpfung ausbuchstabiert, ist die Idee der Generation. Sie macht die jungen Faschisten im Quartiere Trieste, die Radikalen des Geistes und der Literatur und die Linksradikalen zu Brüdern, die gemeinsam den Untergang des Italien ihrer Eltern erleben.

"Meine Generation stand auf der Schwelle zwischen dem Einfluss einer im Niedergang begriffenen, aber noch immer starken elterlichen Autorität, die gar nicht daran dachte, auf ihre Vorrechte zu verzichten, und dem wachsenden Einfluss von Moden, Trends, Verhaltensweisen und Konsum als einzigem Weg, mit der Welt in Verbindung zu treten. Vielleicht waren wir in diesem Zwischenstadium freier - die neuen Götter hatten den Thron der verjagten Götter noch nicht bestiegen -, oder wir waren die Diener zweier und nicht nur eines Herrn wie die völlig der Familie untergeordnete Generation vor uns oder die gänzlich vom Markt versklavte nach uns. Ohne wahre Herren oder zweifach unterworfen."

Die zweite Idee ist die der Männlichkeit als unheilbarer Krankheit, des männlichen Gliedes als Last und Gewaltrisiko, des Ausgeliefertseins der Männer an den Sex, in dem stets die Vergewaltigung lauert. Die Befreiung des Sex in den Sechzigerjahren schlug schon im Folgejahrzehnt in die totale Sexualisierung - also auch die Sexualisierung der Gewalt - um. Der Physiognomiker Albinati ist auch hier ein bedeutenderer Autor als sein Zwilling, der soziologisch und anthropologisch dilettierende Essayist, der einer prägenden Droge seiner Generation verfallen ist, der alles umfassenden Theorie.

Hätte sich dieser Theoretiker dem literarischen Physiognomiker untergeordnet, hätte der Roman für das Ideal, dem er nachstrebt, eine Form finden können. "Vielleicht ist das Hauptanliegen von Romanen und ihr wesentlicher und vielleicht einziger Existenzgrund, Welten heraufzubeschwören, die verschwunden sind. Oder es bald sein werden. Allein deshalb sind realistische Romane reinen Fantasyromanen - wenn es denn überhaupt welche gibt - überlegen, weil deren Welten nie existiert haben und somit niemals verschwinden können, sie sind unzerstörbar, was in puncto Beständigkeit sicherlich als Vorteil erscheinen mag, die Lektüre jedoch der erschütternden Schönheit einer im Untergang begriffenen Welt beraubt."

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Quelle:
SZ vom 08.12.2018
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