Süddeutsche Zeitung

Retrokolumne:Seit 1982 verschollen

Neue Veröffentlichungen feiern die abgetauchte Country-Ikone Bobby Gentry, die frühen Demos von PJ Harvey und das Gesamtwerk von Lloyd Cole.

Von Ann-Kathrin Mittelstrass

Wer 1992 schon alt oder cool genug war, um sich das Debütalbum einer gewissen Polly Jean "PJ" Harvey zu kaufen, der könnte diese rohen Schätze noch irgendwo zuhause rumfliegen haben: die Demoversionen der elf Songs auf "Dry". Sie waren den frühen CD- und Vinyl-Auflagen beigelegt. Alle anderen können dafür jetzt zuschlagen: die "Dry Demos" (Island/Universal) sind gerade zum ersten Mal eigenständig auf Vinyl, CD und digital erschienen. Der Beginn einer Reissue-Reihe, in der PJ Harveys gesamter Backkatalog neu aufgelegt wird. Harvey war Anfang der Neunzigerjahre Großbritanniens Antwort auf Grunge und Bands wie Nirvana, an deren berühmtes "MTV Unplugged"- Konzert man auch bei manchen der Demoversionen von PJ Harvey denkt. Die emotionale Wucht der Songs ist auch in den Akustikversionen zu spüren. Etwa im Hit "Sheela-na-gig", benannt nach den Steinreliefs weiblicher Figuren mit einer meist übertrieben dargestellten Vulva. Im Song wird eine junge Frau als Exhibitionistin zurückgewiesen, weil sie ihre Sexualität zeigt. Es geht immer wieder um Verführung, Schuld, Scham und die Zwänge des Patriarchats. Im Song "Dress" werden die fast komisch überzeichnet, wenn sich eine Frau in ihrem unbequemen Kleid abquält, um ihrem Partner zu gefallen. In der späteren Albumversion ist es eine kratzende Violine, die dem Ausdruck verleiht. Die ist hier nur ansatzweise zu hören, aber generell sind die Demos schon sehr ausgereift. PJ Harveys Stimme klingt ohne das dicke Soundfutter zwar verletzlicher, aber nicht weniger stark. So wirkt sie auch auf dem Albumcover, wo sie nackt und augenscheinlich ziemlich entspannt in der Badewanne liegt.

J. D. Salinger des Pop wurde Bobbie Gentry schon genannt. 1982 hatte die US-Country und Blue-Eyed-Soul Sängerin mit der stets glamourös aufgetürmten dunklen Mähne ihren letzten Auftritt in der Öffentlichkeit - da war sie 40. Seitdem versuchen Fans und Musikjournalisten sie aufzuspüren. Ihre Musik ist glücklicherweise leichter zu finden, jetzt sogar wieder auf Vinyl. Nachdem 2018 bereits ihr Gesamtwerk auf CD erschienen ist, bekommt nun ihr zweites Album "The Delta Sweete" (Virgin) von 1968 eine eigene Neuauflage. Das Album kam damals nur wenige Monate nach dem erfolgreichen Vorgänger "Ode To Billie Joe" raus. Mit dem gleichnamigen Song war Bobby Gentry berühmt geworden. Darin erzählt sie eine geheimnisvolle Geschichte um einen Selbstmord, ganz in der Tradition des Southern Gothic. Ihre Kindheit verbrachte sie in armen Verhältnissen in Chickasaw County, Mississippi. Das Leben dort ist das Thema von "The Delta Sweete". Gentry covert einige Blues- und Country-Hits, die bei ihr, aufgehübscht mit Streichern und Bläsern, ein wenig nach Filmmusik klingen. Besser sind die Songs, die Gentry selbst geschrieben hat. Auf "Mornin' Glory" klingt sie wirklich, als wäre sie gerade aufgewacht. Man hört das Räkeln in ihrer tiefen, heiseren Stimme, die Streicher im Hintergrund malen die ersten Sonnenstrahlen. Gentry schrieb übrigens die meisten ihrer Songs selbst und - ungewöhnlich für eine Frau zu der Zeit - produzierte sie auch. In den Credits standen trotzdem immer nur die männlichen Produzenten.

Glasgows Indie-Szene Anfang der Achtziger war geprägt vom New Wave Sound und Bands wie Orange Juice. Als es den Engländer Lloyd Cole dorthin verschlug, gründete er aber erstmal eine Soul-Band: Lloyd Cole & The Commotions. Eine Art männliche Aretha Franklin wollte er damals werden, hat er dem Guardian mal erzählt. Vielleicht sind das tatsächlich so Gedanken, die einem kommen, wenn man seine Zeit mit Isaac Hayes hören, Golf spielen und Philosophie studieren verbringt. Vom Soul hat sich die Band dann aber bald verabschiedet und machte mit ihrem jangeligen Indie-Pop doch den Kollegen von Orange Juice Konkurrenz - sogar auf demselben Label, Polydor. Bis 1989, dem Jahr der Auflösung, erschienen drei Alben und eine Best-of Platte. Das Hamburger Label Tapete Records bringt das Gesamtwerk der Band nun remastered in einer limitierten 6-LP-Box auf Vinyl heraus, inklusive Bonus-Schnick-Schnack. Wie Cole selbst sagt: "So ziemlich alles, was wir aufgenommen haben und was kein komplettes Desaster ist." Nach Desaster klingt hier aber rein gar nichts, selbst die Live-Aufnahmen von 1986 in New York haben eine erstaunliche Qualität. Was man mögen muss: Lloyd Cole singt gerne mit "vocal fry", wie es die Amerikaner nennen. Einem gequetschten Knarzen in der Stimme, das wahrscheinlich seine Art ist, möglichst leidenschaftlich zu klingen. Wenn er das nicht überstrapaziert, sind Songs wie "Are You Ready To Be Heartbroken?" oder "Lost Weekend" zeitlose Hits.

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SZ vom 28.07.2020
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