Süddeutsche Zeitung

Retrokolumne:Namenlos, planlos, unerwünscht

Lesezeit: 3 min

Diesmal mit Tom Petty und dem famosen weiblichen britischen Indie-Pop der Siebziger - sowie der Antwort auf die Frage, wie Stasi-Chef Mielke die unliebsamen DDR-Punks loszuwerden versuchte.

Von Ann-Kathrin Mittelstrass

Heute hätte er seinen 70. Geburtstag gefeiert: Tom Petty. Vor drei Jahren starb er an einer versehentlichen Überdosis Schmerzmittel. So traurig hat man die Musikwelt, die tragische Tode ja wahrlich gewohnt ist, selten gesehen. Mit seiner Band, den Heartbreakers hatte Petty seit den Siebzigern das Rockradio geprägt. 1994 erschien sein zweites Solo-Album "Wildflowers", das viele für sein Meisterwerk halten. Gerade ist es neu veröffentlicht worden als "Wildflowers & All the Rest". Was hier aber so lapidar als "Rest" bezeichnet wird, bedeutete Petty enorm viel. Eigentlich hatte er das Album damals mit Co-Produzent Rick Rubin als Doppelalbum angelegt. Seinem Label Warner war es aber zu lang und so erschien es am Ende mit 15 statt mit 25 Songs. Über die Großartigkeit des Originalalbums ("You Don't Know How It Feels") ist schon viel geschrieben worden, von den bisher unveröffentlichten Songs sticht das so schwermütig-hoffnungsvolle "Confusion Wheel" heraus, das schon beim ersten Hören wie ein Americana-Klassiker klingt. Wer sich für die Deluxe-Version entscheidet, bekommt auf vier CDs oder sieben LPs die zum Teil noch schöneren, intimen Home Recordings einiger Songs und Live-Aufnahmen dazu. In der Super-Deluxe-Version gibt's alternative Studioaufnahmen. Und wer meint, eine "einzigartige Unisex-Halskette" und einen "maßgeschneiderten Stoffbeutel" zu brauchen, nimmt die Absurd-Deluxe, äh, Ultra-Deluxe-Version für 500 Dollar.

Eine Compilation, die mit einer Kampfansage beginnt: "Einige Leute denken, kleine Mädchen sollen gesehen werden und nicht gehört. Aber ich denke: Oh, Bondage, up yours!" Ihr könnt mich mal, schreit Sängerin Poly Styrene also im Song "Oh Bondage! Up Yours!". X-Ray Spex hieß ihre Band, die 1977 mit diesem irren Saxophon-Punk-Kracher eine neue Ära mit einleitete. Die Punk hatte in Großbritannien auch die Frauen auf den Plan gerufen. Sie nutzten die Chance, um sich auf eine Weise auszudrücken, die so gar nicht dazu passen wollte, wie "typische Mädchen" zu sein hatten. Die rebellierten nämlich nicht, sondern kauften brav ihre Frauenmagazine und hielten zu ihren Männern, wie The Slits damals sarkastisch sangen. Sie sind wie X-Ray Spex auf "Make More Noise! Women In Independent Music, UK 1977-87" (Cherry Red Records) vertreten. Die vier CDs dokumentieren den Sound der Insel aus weiblicher Sicht. Punk ist nur der Ausgangspunkt. Es ist ein wilder Ritt durch insgesamt 90 Songs, unabhängig von Genre oder kommerziellem Erfolg. Die Pretenders und die Raincoats sind dabei, genauso wie die Heavy-Metal-Band Girlschool und Rip Rig + Panic, in der Neneh Cherry als Teenager gesungen hat. Gerade für später Geborene gibt es viel zu entdecken. Zum Beispiel, dass Gwen Stefani sich ihre kleinen Kiekser ganz sicher von Lene Lovich ("Lucky Number", 1978) abgeschaut hat!

Die Musik scheppert, zerrt, klingt dumpf wie aus dem Klo oder wie herauf geweht aus einem kleinen Kellerfenster, an dem man gerade vorbeigeht. Kurz: die Soundqualität auf der Compilation "Too Much Future" (Iron Curtain Radio) ist ganz schön lausig - was das Hörerlebnis auf den drei LPs oder zwei CDs aber nicht weniger faszinierend macht. Schließlich ist das Punkrock aus der DDR! Von ausnahmslos illegalen Bands, die zum Teil niemals aufgetreten sind. Namenlos, Planlos oder Unerwünscht nannten sie sich. Ihre Songs hießen "Ronny Muss Zur Armee", "DDR Terrorstaat" und "Frustration". Während die Sex Pistols der Punk-Bewegung im Westen den nihilistischen No-Future-Stempel aufdrückten, galt für die Punks im Osten eher: zu viel Zukunft. Und zwar vorgegeben durch die DDR-Diktatur. Die konnte natürlich auch nicht verhindern, dass Punkrock seinen Weg übers Westradio (John Peel!) hinter den Eisernen Vorhang fand. Ab 1983 war Punk auch hier zu einer Bewegung geworden - und für das Regime zum Problem. Stasi-Chef Mielke machte es zur Chefsache, die unliebsamen Individualisten loszuwerden. Wie er die Szene "zersetzen" lassen wollte, kann man am Beispiel der Band Namenlos im 80-seitigen, eng beschriebenen Booklet nachlesen. Alle vier Mitglieder - eines davon minderjährig - wurden verhaftet. Über Monate folgten Verhöre, Einschüchterungs- und Manipulationsversuche. Sogar der zurückgelassene Band-Hund wurde als Druckmittel benutzt - dabei war er gleich nach der Verhaftung schon eingeschläfert worden. Wer nicht verhaftet wurde, wurde oft zum Wehrdienst eingezogen. Die Konflikte - auch innerhalb - der Punk-Bewegung im Westen (Ausverkauf, Verrat an der Bewegung) erscheinen in diesem Licht ziemlich lächerlich. Wer in der DDR Punk war, für den stand wirklich was auf dem Spiel. Ein zeitgeschichtliches Dokument.

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SZ vom 20.10.2020
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