Süddeutsche Zeitung

Retrokolumne:Lust und Verzweiflung

Die interessantesten Pop-Reissues der Woche. Diesmal mit dem Psychedelic-Folkrock-Meisterwerk "Forever Changes" von Love und der Antwort auf die Frage, warum Liz Phairs Debüt "Exile In Guyville" eines der besten Alben der Neunziger ist.

Von Thomas Bärnthaler

Alles an Liz Phairs Debütalbum aus dem Jahr 1993 war eine Provokation: Schon den Titel "Exile In Guyville" konnte man als Anmaßung verstehen. Gemeint war mit Guyville die Indierock-Szene Chicagos, in der sie anfangs keinen Fuß in die Tür bekam. Gemeint waren aber auch die Männer schlechthin, die mit ihrer Ignoranz und Selbstherrlichkeit den Stoff für Phairs Songs und Spott abgaben. Und dann das Albumcover: Phair hält darauf ziemlich ungeniert ihr sehr tiefes Dekolleté in die Kamera, mit offenem Mund und aufreizendem Blick. Der Bildausschnitt endet kurz vor der Brustwarze. Das sah sexy aus, an der Schwelle zur Frivolität. Und genau so sollte es auch wirken, denn Lust und Verzweiflung waren für sie zwei Seiten einer Münze. Phair, Adoptivkind und Kunststudentin, war lange mit ihrem ersten Album schwanger gegangen. Kassetten mit ihren Songs kursierten in Chicago seit 1991. Jetzt gibt es diese zu Hause eingespielten Demoaufnahmen zusammen mit dem Originalalbum erstmals offiziell zu hören, als Teil der Boxset-Jubiläumsausgabe "Girly-Sound to Guyville". Sie zeigen, dass alles schon da war, bevor Produzent Brad Wood diesen Songs im Tonstudio zu ihrem Recht verhalf und Phair zum ersten weiblichen Star des Indierock aufstieg: ihre typische Slacker-Stimme zum Beispiel, die gelangweilt und stolz zugleich klang. Dieser sarkastische Unterton, wenn Phair ziemlich unverblümt, bisweilen sogar sehr explizit über Sex und die damit verbundene Komplikationen sang. Das kam anders rüber als der Zorn der schrillen Riot Girls um Grunge-Ikone Courtney Love oder die verhuschte Schüchternheit von Suzanne Vega, da war auch kein Weltherrschaftsplan wie bei Madonna, noch formulierte sie eine feministische Agenda. Ihre Songs erzählten einfach ziemlich lässig und explizit von Liebes- und Alltagskatastrophen einer junge Frau Anfang der Neunzigerjahre. Damit traf sie einen neuen Ton und wohl auch einen Nerv. Man braucht sich nur mal die Kommentare unter den diversen Mitschnitten der Girly-Sound-Tapes auf Youtube durchzulesen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie wichtig Phair für eine ganze Generation von Frauen bis heute ist. Liz Phair war cool, aber nicht zynisch, dem Eros zugewandt, aber selbstbestimmt. Sie hat, typisch für Autodidakten, eine ganz eigene Art, Gitarre zu spielen. Dennoch kann man ihre Songs sofort mitsingen. Phairs Popappeal, ihre Mischung aus Chuzpe und Unschuld klingt noch heute bei Musikerinnen wie Courtney Barnett oder Girlpool nach. Völlig zu recht gilt ihr gefeiertes Debüt als wegweisendes Album der Neunziger. Dabei war eine gewisse Flatterhaftigkeit immer Teil ihres Geheimnisses. Männer den Spiegel vorzuhalten schließt nicht aus, sich auch nach einem Boyfriend der alten Schule zu sehnen ("Fuck & Run"). Oder Musiker wie Nash Kato von Urge Overkill anzuhimmeln, der vor Virilität kaum gehen konnte oder zumindest so tat. Urge Overkills Song "Goodbye to Guyville" war es auch, der ihr die Metapher borgte für den Rundumschlag. Auch die Idee für das Covermotiv stammte von Kato, wie man im Booklet nachlesen kann. Auf dem Boxset prangt es unzensiert. Man konnte als Mann viel lernen von Phair über das Leben als junge Frau, wenn man gewillt war hinzuhören. Dabei muss man nur die maßgeblichen Platten jener Zeit durchgehen, um zu merken, dass Indie- und Postrock damals ein Jungsding war; dass all die Befindlichkeiten, das Unverstandensein, die Identitätsfragen im männlichen Blick gefangen blieben. Wer das wie Phair durchschaute, den Spieß umdrehte und auch noch Erfolg hatte, brauchte auf den Gegenwind nicht lange zu warten. Im Internet ist ein Leserbrief des einflussreichen Indie-Produzenten Steve Albini (Nirvana, Pixies) dokumentiert, der 1994 in einem Chicagoer Musikmagazin erschien. Darin beschimpft er Phair als "Schlampe", die nichts draufhabe und den Ausverkauf der Szene betreibe. Heute schreiben die Guys aus Guyville unter Phairs Musikvideos auf Youtube Kommentare wie "Hot chick!" oder "Go, buy some tampons". Aber eben auch: "This records changed my life. And I am MALE."

Die Inflation von Neuauflagen ist ein guter Gradmesser für die historische Relevanz eines Albums, denn nur was zeitlos ist, kann immer wieder auf den Markt. Eben ist "Forever Changes" das psychedelische Folkrock-Meisterwerk von Love aus dem Jahr 1968 neu erschienen, zum 50. Jahrestag, vollgepackt mit alternativen Mono- und Stereoabmischungen, Outtakes und anderem Archivmaterial. Die üblichen Geburtstagsgeschenke eben, die sich Labels gerne selbst machen. Eine Collector's Edition erschien aber auch schon 2015 und 2008, eine Neuabmischung 2001. Kurz: Wer sich noch einmal anhören möchte, mit welch unerhörter Seelenmusik die Band aus L.A. damals das Bewusstsein der Hippies erweiterte, kann dafür viel Geld ausgeben. Die Version für 7,99 tut's aber auch.

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SZ vom 05.06.2018
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