Süddeutsche Zeitung

Retrokolumne:Liebe geht durch die Platten

Man verehrte die Beatles, aber verabscheute ihre Frauen. Trotzdem brachten sie Großes zustande, Linda McCartney etwa. Dazu Reflexionspop von "My Morning Jacket" und Pianoklasse von "Blue" Gene Tyranny.

Von Thomas Bärnthaler

Vermutlich wurde kaum eine Band so bedingungslos geliebt wie die Beatles. Nur so ist zu erklären, mit welch eifersüchtiger Geringschätzung Fans jene Frauen bedachten, die es wagten, einen der Fab Four zu heiraten. Yoko Ono wirft man bis heute vor, die Beatles auf dem Gewissen zu haben. Auch Linda McCartney, geborene Eastman, Tochter aus gutem Hause und anerkannte Fotografin, wurde überkritisch beäugt, nachdem sie als Keyboarderin und Sängerin bei den Wings eingestiegen war. Was wäre die nur ohne Paul? Es kursierten Live-Bootlegs mit ihrer isolierten Gesangsspur, um zu beweisen, wie limitiert ihre Stimme sei. Als 1998, kurz nach ihrem frühen Tod, ihr erstes und einziges Soloalbum "Wide Prairie" herauskam, war die Kritik einhellig: Ihr Gesinge, befand zum Beispiel der Guardian, sei besser im Badezimmer aufgehoben. Nun wurde das Album neu auf Vinyl aufgelegt. In den 16 Titeln, aufgenommen zwischen 1972 und 1998, kommt man einer Frau näher, die sich trotz aller öffentlichen Missbilligung eine ansteckende Unbekümmertheit bewahrt hat. Deren Vielseitigkeit erstaunt. Sie covert alte Fifties-Klassiker ("Poison Ivy"), schunkelt zum Reggae-Beat von Lee Scratch Perry ("Sugartime"), streift Glamrock und Country und teilt gegen ihre Kritiker aus: "You say I'm simple / You say I'm a hick / You're fucking no one / You stupid dick". Was ihr ein Warnetikett für anstößige Sprache auf ihrem Album einbrachte. Recht hatte sie trotzdem.

Als sich der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau 1845 für zwei Jahre in eine einsame Hütte am Walden Pond, Massachusetts, begab, um im Einklang mit der Natur das wahre Leben zu finden, prägte er unwissentlich einen Topos, der später in der Americana-Musik stilbildend werden sollte: der Rückzug des desillusionierten Songschreibers in die Einsamkeit, auf dass er hernach geläutert mit neuem Feuer zu Werke schreite. Was Bob Dylan ein Haus in Woodstock war, wo 1967 die "Basement Tapes" entstanden, das war für Jim James, Sänger und Gitarrist der Band My Morning Jacket, eine alte Farm in Shelbyville, Kentucky. Sie diente 1999 als Aufnahmestudio für "The Tennessee Fire", das fulminante Debütalbum der Band. Jetzt liegt es in einer Jubiläums-Version (Dreifach-Vinyl) vor. Lange, bevor die Fleet Foxes in jenseitigen Folk-Chorälen schwelgten, öffnete James einen Hallraum, der Vergangenheitsbeschwörung und Seelenerkundung zugleich war. Seine Songs, die mal an alte Hillbilly-Weisen gemahnen, mal an scheppernden Country-Rock, wirken dabei kein bisschen gestrig, da sie sehr zeitlos eine sehr alte Frage umkreisen, die die Sinnsuchenden der Welt seit je umtreibt: Wo gehöre ich hin, wo ist mein Platz? Seinen sirenengleichen Gesang ließ James dafür eigens in einem leeren Getreidesilo aufnehmen und legte über alles so viel Hall, dass man beim Hören glaubt, in einer Kathedrale zu stehen. Man muss schon ein Herz aus Stein haben, um davon nicht berührt zu werden. Auf ihren späteren Alben erweiterten My Morning Jacket ihr Repertoire in Richtung Psychedelia, Dub und Experimentelles und festigten ihren Ruf als einer der originellsten Rockbands ihrer Generation.

Robert Sheff alias "Blue" Gene Tyranny wird kaum jemandem ein Begriff sein, dabei hat sich der Texaner als Pianist, Arrangeur und Komponist Neuer Musik durchaus einen Namen gemacht, hat mit Laurie Anderson, John Cage und der Jazzpianistin Carla Bley zusammengearbeitet, einmal hat er fast einen Grammy gewonnen. 1973 sprang er sogar kurzzeitig als Live-Pianist bei Iggy & The Stooges ein. Der Mann konnte nicht nur E, sondern auch U. Was er fünf Jahre später eindrucksvoll auf seinem jetzt wiederveröffentlichten Debüt "Out Of The Blue" unter Beweis stellte, einem der wundersamsten Alben der Siebzigerjahre. Sheffs Idee war, ein Pop-Album aufzunehmen mit den Mitteln der Avantgarde. Dazu schrieb er einen Zyklus aus vier Stücken, die sich Genrezuordnungen widersetzen. "Next Time Might Be Your Time" mag als Folkballade daherkommen, wären da nicht die Synthesizerakkorde, die unvorhersehbaren Melodiewechsel und das Steely-Dan-mäßige Saxofon. Das Instrumental "For David K." ist komplexe Groove-Kunst ohne anstrengende Solo-Angebereien. Die Piano-Komposition "Leading A Double Life" für zwei Sopranstimmen wiederum verbindet Elemente des Gospel mit neuer Kammermusik. Vollkommen ins Driften gerät das Album bei "A Letter From Home", einem 25-minütigen Tongedicht mit zwei Erzählstimmen, die sich mit auf- und abtauchenden Melodien und wiederkehrenden Gesangsmotiven verbinden, ganz so, als drehe jemand langsam am Senderknopf eines Radios. Auf einem Frequenzband, das nicht von dieser Welt scheint.

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Quelle:
SZ vom 13.08.2019
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