Retrokolumne:Kreaturen der Nacht

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Die Pop-Reissues der Woche. Diesmal mit deutscher Punk-Subkultur und New Yorker Clubmusik der frühen Achtziger - und der Antwort auf die Frage, von wem die große Zeile "Fakten sind Terror im täglichen Irrtum" einst erfunden wurde.

Von Jan Kedves

Das Schöne am Drang zur Wiederentdeckung ist ja, dass er nie an Grenzen stoßen muss. Die Archive sind so reich gefüllt, dass selbst in Ecken und Szenen, die man historisch schon für erschöpfend aufgearbeitet hielt, sich noch immer Altes, Übersehenes, Vergessenes findet, das alsdann von der riesigen Ungerechtheit schreit, dass es bislang übersehen und vergessen wurde. Auf dem Münchner Label Gomma sind zum Beispiel in den Jahren 2001 und 2002 mit "Anti NY" und "Teutonik Disaster" schon zwei Kompilationen erschienen, die sich hochverdient machten um die Historisierung einflussreicher Übergangsphasen im Untergrund, Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre. Erstere spielte in der New Yorker New- und No-Wave-Szene, letztere in Deutschland. Diese Kompilationen sind nun 17 beziehungsweise 16 Jahre her - und somit auch schon wieder retrofähig? Jedenfalls ausbaufähig. Denn da ist noch mehr. Wie etwa auf "JD Twitch presents Kreaturen der Nacht. Deutsche Post-Punk Subkultur 1980-1984" (Strut) zu hören ist. Es ist eine wunderbare Zusammenstellung von Songs aus der Zeit, als man in West-Berlin als Mitglied eines untergrundigen Kassettenkombinats oder eines autonom-kreativen Wohnkollektivs noch selbstverständlich Matratze heißen konnte ( Leben und Arbeiten: "Amanita"). Oder als man als Mitglied einer Lesbenband wie Ausserhalb herrlichen Dada-Dub-Punk geradeaus trötete und deklamierte ("Zeitzelle"). Der Mann, der diese Songs ausgegraben und zusammengestellt hat, heißt JD Twitch und ist bekannt als eine Hälfte des angesehenen Glasgower DJ-Duos Optimo. Er nimmt neben dem Obskuren auch Offensichtlicheres mit dazu, was nicht stört: "Fakten sind Terror im täglichen Irrtum" heißt es im stolperig-monotonen Exkurs-Dub, der 2002 bereits auf "Teutonik Disaster" begeisterte und nun, im Jahr 2018, inhaltlich so frisch klingt und so aktuell die Fake-News-Debatten zu kommentieren scheint, dass es fast schon wieder unheimlich ist. Christiane F.s "Wunderbar", hier in einer speziellen Bearbeitung, darf auch nicht fehlen. Interessanterweise bedingt der Blick von außen - oder eben: aus Schottland -, dass auch Andreas Doraus "Fred vom Jupiter" mit in die Sammlung aufgenommen wurde. Als deutscher Kompilator hätte man sich das - tausendmal gehört, tausendmal ist nichts mehr passiert - kaum getraut. In diesem Kontext glänzt der Fred allerdings plötzlich wieder. Weswegen der einzige Kritikpunkt ist, dass "Germany" aus schottischer Perspektive natürlich gleichbedeutend mit West-Deutschland ist, also vor allem West-Berlin, und ein bisschen Hamburg und München (Stefan Blöser: "Voyager One"). Musik aus der DDR ist keine dabei. Er habe mit seiner Auswahl keine Deutschland-Geschichte schreiben wollen, betont JD Twitch im Disclaimer. Also gut.

Der subkulturellen Inselstatus, den West-Berlin früher in der Bundesrepublik hatte (und den Berlin im Grunde heute noch hat), den hat innerhalb der USA traditionell natürlich New York. Dort spielt dementsprechend das Album " Life & Death on the New York Dance Floor 1980-1983 Part 1" (Reappearing). Die Kompilation liefert dem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 2016 nachträglich seinen auf Vinyl gepressten Soundtrack hinterher. Tim Lawrence, Professor für Cultural Studies an der University of East London und Musik-Nerd vor dem Herrn, veröffentlichte vor zwei Jahren mit "Life & Death on the New York Dance Floor" seine packende Geschichtsschreibung jener Jahre, in denen im Big Apple eine absolut wahnsinnige Gleichzeitigkeit herrschte - als Disco und Punk im Grunde schon vorbei waren, aber doch weiterlebten, als Hip-Hop sich gerade erst formierte, als keine Grenzen zwischen Kunst, Performance und Dance-Szene herrschten, die Mieten und Drogen noch bezahlbar waren, und während über allem schon die große Aids-Krise heraufzog. Musikalisch begeistert auf dieser von Tim Lawrence selbst zusammengestellten Sammlung vor allem "Jam Hot" von Johnny Dynell & New York 88: ein hypnotisch piepsender Dub-Track, dessen legendäre Rap-Passage 1990 von dem britischen Produzenten Norman Cook alias Fatboy Slim für dessen Hit "Dub Be Good To Me" gesampelt wurde ("Tank fly boss walk jam nitty-gritty / You're listening to the boy from the big bad city / This is jam hot"). Ebenfalls grandios: "Beat Bop" von Rammellzee vs K-Rob. Das Cover für diese 12-Inch-Single wurde damals von Jean-Michel Basquiat entworfen, der heute als einer der größten Künstler des 20. Jahrhunderts gilt. Es wurde nie in Serie gedruckt, weil man beim Label Profile keinen Sinn für Basquiats Genie hatte. Dass die Zeichnung sich nun auch für diese Kompilation nicht als Cover verwenden ließ, liegt vermutlich eher daran, dass die Rechte inzwischen schlicht unbezahlbar sind. Dafür ist Jean-Michel Basquiat auf dem Cover der Kompilation als DJ in der Lounge des sagenumwobenen New Yorker Clubs Area zu sehen.

© SZ vom 04.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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