Süddeutsche Zeitung

Retrokolumne:Kontrollfreaks

Männer, die alles beherrschen und selber machen wollen, sind mit Vorsicht zu genießen. Aber ohne solche Nerds wäre die Popgeschichte wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Ein Beispiel ist der größenwahnsinnige Rockmusiker Todd Rundgren.

Von Thomas Bärnthaler

Männer, die zu Kontrollzwang neigen, sind mit Vorsicht zu genießen. Tatort: Aufnahmestudio. Die Grenze zwischen Genie und Maniac ist auch dort mitunter fließend, wie das Beispiel des Produzenten Phil Spector zeigt - der gefeierte Erfinder des "Wall of Sound" ist nebenbei auch ein gewalttätiger Frauenfeind und Waffennarr, der heute wegen Mordes an seiner Frau in einem kalifornischen Gefängnis sitzt. Andererseits gab es auch Gentlemen wie den Beatles-Produzenten Sir George Martin, dessen Manie nur in der musikalischen Perfektion bestand. Oder Musiker wie Brian Wilson, die lieber gleich alles selbst erledigten. Keine Frage, die Popgeschichte wäre wohl anders verlaufen ohne all die Kontrollfreaks, Inselbegabungen und Nerds. Womit wir bei Todd Rundgren wären, dessen legendäres, weil größenwahnsinniges Konzept-

Album "Something/Anything"aus dem Jahr 1971 nun als SACD-Doppelalbum (Analog Spark) neu aufgelegt wurde. Rundgren, damals Mitte zwanzig und noch aufstrebender Rockmusiker ohne nennenswerte Hits, spielte für dieses Album nicht nur (fast) alle Instrumente selber ein, sang alle Vokalspuren, sondern nahm das Meiste auch im Alleingang auf. Es musste eben auch so viel raus, was in seinem ritalinbefeuerten Kopf herumspukte: Folkpop-Hits im Stile Carole Kings ("I saw the light"), Motown-Soul ("Wolfman Jack"), grandioser Powerpop ("Couldn't I Just Tell You") und 39 andere Ideen wie die Glamrock-Operette, die er auf Seite vier zur Aufführung brachte. Heute, da jeder Wohnzimmerproduzent auf seinem Laptop die ganze Musikgeschichte zusammensampeln kann, mag diese Art von Einmann-Show etwas läppisch erscheinen. Damals, im Zeitalter des Tonbands, war es eine logistische Meisterleistung. Rundgren gründete später die Progrock-Band Utopia und blieb ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen des Popbetriebs, produzierte Alben für The Tubes, Hall & Oates, Meat Loaf und XTC, nahm zwischendurch selber Platten auf oder verdingte sich als Entwickler von Grafiksoftware und Bildschirmschonern. "Something/Anything" jedoch blieb sein Meisterstück: ein chaotisches Popkunstwerk, das neue Horizonte erschloss, ein Schlüsselwerk der Siebzigerjahre, ohne Perfektionsansprüche, randvoll mit wunderbarer Seelenmusik und spielerischer Ambition.

Was Rundgren für die Siebzigerjahre war, wurde Pop-Produzent Trevor Horn für die Achtziger: der Tonmann mit den Midashänden, dessen Klangwelten einen ganze Generation prägten. Horn war der Erste, der im großen Stil auf Sampling und digitale Aufnahmetechniken setzte und diese neuen Möglichkeiten mit Charts-Ambitionen verband. So wurde er zum Hitgaranten für Acts wie Frankie Goes to Hollywood, Art of Noise, Yes, Grace Jones. Und: Propaganda, jener Düsseldorfer New-Wave-Band, die aus Die Krupps hervorgegangen war und von Horns Label ZTT 1985 zur teutonischen Synthpop-Sensation hochgejazzt wurde. Nun gibt es eine Neuauflage ihres Albums "A Secret Wish" inklusive Booklet, in dem man gut nachlesen kann, wie generalstabsmäßig das alles durchdesignt wurde: Angefangen vom philosophischen Geschwurbel in den Linernotes, über den gestrengen Kraftwerk-Look der Band bis hin zur Bilderwelt der Videos und Texte: Da wurde schamlos deutsche Wochenschau-Ästhetik zitiert sowie Fritz Lang, Dr. Mabuse und Marlene Dietrich. Zusammen mit den vom Horn-Assistenten Steve Lipson inszenierten Industrial-Sounds ergab das eine Popaufregung, die immerhin einen Sommer hielt: "Abba from hell" titelte der NME, "Einstürzende Neubauten als Pop" befand Popkritiker Simon Reynolds später. Im Hit "Duel", der auch heute noch zündet, ging all das perfekt auf, und in Tracks wie "The Murder of Love" und "Jewel" wird die Pionierarbeit hörbar, die Propaganda-Keyboarder Ralf Dörper für die Electric Body Music leistete.

Während New Pop für die Hinwendung zum "Overground" stand, gab es immer noch genug Postpunk-Bands, die unter dem Radar flogen, aber nicht minder einflussreich waren. Felt aus Birmingham waren schon in den Achtzigern nur einer versprengten Fangemeinde bekannt, werden aber heute von Bands wie Belle & Sebastian oder The Sea & Cake verehrt. Das Boxset "A Decade in Music" (Cherry Red), das die ersten fünf Alben beinhaltet, zeigt, warum: Die frühen Felt waren einem minimalistischen, kontemplativen Gitarrenpop auf der Spur, den man am besten bei geschlossenen Rollos hört. Was Joy Division für die deprimierte Thatcher-Jugend war, war Felt für den verträumten Bohemien. Einer ihrer frühesten Förderer war übrigens der kürzlich verstorbene Mark E. Smith, Sänger von The Fall, der die Band 1980 als Vorprogramm mit auf Tour nahm. Nicht nur dafür schulden wir ihm Dank.

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SZ vom 30.01.2018
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