Süddeutsche Zeitung

Retrokolumne:Glaube ohne Gott

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Vom Weihnachtsoratorium zu John Coltrane - und was der Jazz der späten Sechziger sonst noch an Spirituellem und Brachialem zu bieten hat.

Von Andrian Kreye

Wenn man sich an einem Adventssonntag erst das Weihnachtsoratorium anhört und dann am Abend noch ein paar Platten aus dem Spätwerk von John Coltrane auflegt, gibt das ein interessantes Flirren im Kopf. Gerade weil der Sprung von Bach zu Coltrane die große Klammer von knapp zweihundert Jahren auslässt, in der sich die Musik zwischen der französischen Revolution und "A Love Supreme" so vehement vom Diktat der Lobpreisung befreite. Das begründete aber auch die elektrisierende Wirkung, die Coltrane in seiner Spätphase auf die Zuhörer hatte (und auf Platte immer noch hat): Er führt die Ekstase auf ihre spirituellen Wurzeln zurück, wofür ihm so viele dankbar waren, die auf der Suche nach einem Glauben ohne Gott waren.

Überhaupt sollte man sich hin und wieder mal die ganzen spirituellen, brachialen und linksradikalen Ausbrüche des Jazz aus den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren gebündelt anhören, denn so versteht man, was sich damals in den Köpfen der Menschen abspielte, die sich in den Großstädten aufgemacht hatten, nicht nur die Kunst und die Musik, sondern gleich das ganze Leben umzustülpen. Das bietet sich gerade an, weil Impulse Records ein paar dieser Meilensteinplatten wuchtig auf Vinyl remastert neu aufgelegt hat. Eine Werksausgabe von "A Love Supreme" gibt es dazu auch. Sie vereint auf drei CDs erstmals sämtliche Aufnahmen, die Coltrane im Dezember 1964 für das Album gemacht hat, das nicht nur den Jazz erschüttern sollte. Was sich da über dem einfachen Bass-Motiv von Jimmy Garrison über die vier Sätze der Suite aufbaut, steckt tief in den religiösen Ritualen, die Coltrane eigentlich ablehnte. Es war aber nicht nur seine Erkenntnis, dass sich die Ekstase der Musik aus dem Glauben ableiten lässt. Das blieb auch der modellhafte Aufbau einer Intensität, die sich von Jimi Hendrix und Carlos Santana bis zu Prince und U2s Bono unzählige Rockstars abschauten, die sich nicht damit begnügen wollten, ihre Hits abzuspielen. Der Funke, der im Rock auf ein ganzes Stadion überspringen kann, steckt genau in diesen rund 33 Minuten spiritueller Sinnsuche, über die kluge Menschen schon ganze Bücher geschrieben haben.

Obwohl John Coltrane Zeit seines Lebens nicht mehr zum organisierten Glauben fand, nannte er sein nächste Album, mit dem er die Musikgeschichte erschütterte, gleich "Ascension". Diese Himmelfahrt, die er im Kollektiv mit zehn kongenialen Musikern für sich reklamierte, setzte letztgültig fort, was Ornette Coleman viereinhalb Jahre zuvor mit "Free Jazz" begonnen hatte. Die meditative Spiritualität von "A Love Supreme" hatte er da schon hinter sich gelassen. In die vertieften sich zunächst seine Schützlinge.

Seine Frau Alice Coltrane zum Beispiel, von der in dem Paket "World Galaxy" neu erscheint. Man sollte eigentlich verschweigen, dass sie neben den Keyboards vor allem Harfe spielt und auf dem Album nicht nur von einem Streichorchester begleitet wird, sondern auf ihrer Version von "A Love Supreme" auch noch der Yoga-Guru Satchidananda Saraswati den Text rezitiert. Das führt auf die falsche Spur. Wie sie die Befreiungsschläge ihres verstorbenen Mannes in den Rahmen klarer Arrangements zurückholt, hat eine hypnotische Wirkung. Man fand sie später dann in den Soundtracks wieder, die Bill Lee für seinen Sohn Spike schrieb, oder auch im diesjährigen Mammutalbum "The Epic" von Kamasi Washington.

Keiner allerdings hat das Vermächtnis von "A Love Supreme" so schlüssig (und früh) auf einen Punkt gebracht, wie Coltranes Entdeckung Pharoah Sanders auf seinem Album "Karma". In dem Stück "The Creator Has A Masterplan" schleicht sich der Tenorsaxofonist über einem ähnlich wegweisenden Bassmotiv gemeinsam mit dem Sänger Leon Thomas innerhalb von einer halben Stunde durch sämtliche Stadien der Erleuchtung, von der Meditation über das Mantra bis zur absoluten Freiheit. Dabei ließ sich der befreite Jazz bei solchen spirituellen Tiefenschürfungen nie auf die verhuschten Innerlichkeitsposen ein, die psychedelischen Rock oder all die New Age- und Trance-Musiken so unerträglich machen. Nein, auf die Meditation folgte im Jazz damals immer die Ekstase. Die muss man aushalten. Aber das ist ja überhaupt der Punkt bei der Musik dieser Zeit.

Albert Ayler zum Beispiel brachte aus seinem Wehrdienst in Übersee die Marschmusik zurück. Die kombinierte er mit seinen Kindheitserlebnissen in der Kirche zu musikalischen Geisterbeschwörungen, die im New York der Sechzigerjahre eine ähnliche Wirkung hatten wie zehn Jahre später der Punk. Zeit seines Lebens liebten ihn jedenfalls nur die Kritiker. Und wenn man sich "In Greenwich Village" anhört, sein Debüt für Impulse, das er auf Coltranes Anraten live aufnahm, kann man immer noch nachvollziehen, warum das die New Yorker Jazzclubgänger damals so verstörte. Nein, das war keine Wohlfühlspiritualität, die der Jazz damals entdeckte. Die Katharsis war für Musiker und Publikum gleich hart erarbeitet.

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SZ vom 22.12.2015
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