Süddeutsche Zeitung

Retrokolumne:Eine Menge Speed

Die interessantesten Pop-Wiederveröffentlichungen. Diesmal mit den "Specials" und Motörhead - sowie der Antwort auf die Frage, wie Freddie Mercurys Solowerk klingt.

Von Max Fellmann

Dass es die Specials 40 Jahre nach ihrer großen Zeit wieder gibt, ist ganz wunderbar. Einerseits. Und andererseits etwas traurig. Einer tot, einer für alle Zeiten mit dem Rest der Band verfeindet, zwei nach kurzer Zeit schon wieder ausgestiegen - bleiben: drei von sieben Originalmitgliedern. Aber die haben es in England Anfang des Jahres mit einem neuen Album auf den ersten Platz der Charts geschafft und touren jetzt unermüdlich durch Europa. Weil sie - zumindest in ihrer Heimat - einen Nerv getroffen haben. Es gibt ja diese Momente, in denen alle darauf warten, dass sich die eine entscheidende Stimme erhebt und etwas zum Zeitgeschehen sagt. Nach 9/11 haben die Amerikaner auf der Straße Bruce Springsteen zugerufen, wo sein Album zur nationalen Katastrophe bleibe. Genauso haben im dauerkriselnden England offensichtlich Hunderttausende gehofft, dass endlich etwas Neues von den Specials kommt und den Geist der Zeit einfängt (was ihnen mit dem Album "Encore" gelungen ist). Warum gerade die Specials, das wird einem sofort klar, wenn man sich das Debütalbum noch mal anhört. Es ist jetzt, zum Jubiläum, in einer edlen Vinyl-Version neu aufgelegt worden. Und auch wenn man nie ein 20-jähriger Arbeitsloser im England der frühen Thatcher-Jahre war, es haut einen allemal um, wie haargenau da alles zusammenfindet, die Dringlichkeit des Punk, die Wut der Straße, die Lebensfreude der Nacht, die Offbeats der jamaikanischen Einwanderer. Von Party bis Straßenkampf alles drin: Zu "A Message To You, Rudy" möchte man schunkeln, zu "Monkey Man" durchdrehen, zu "Concrete Jungle", dem großartigen Song gegen rechte Schläger, möchte man sich Kopf voraus ins Getümmel stürzen. Verzweifelt gut gelaunter Ska mit der aggressiven Wucht des Punk - so wie diese grantigen jungen Kerle aus der Kleinstadt Coventry hat das nie mehr jemand hingekriegt.

Wer nach dem Brimborium um den Queen-Film "Bohemian Rhapsody" in den vergangenen zwei Jahren noch nicht genug hat, kann sich jetzt noch mal gründlich mit Freddie Mercury befassen: Die Box "Never Boring" umfasst das komplette Soloschaffen des Sängers, drei CDs, eine Blu-Ray-Disc, eine DVD - und ein 120-Seiten-Fotoband. Den Bogen zwischen alten und neuen Fans schlägt dabei Rami Malek, der Mercury im Film gespielt und dafür den Oscar bekommen hat: Von ihm stammt das Vorwort. Das ist alles sehr hübsch und sehr freundlich aufbereitet, und ja, als Sammlerobjekt völlig in Ordnung. Aber was diese Box leider gerade in ihrer Kompaktheit sehr klarmacht, ist eher betrüblich: Jenseits von Queen hat Freddie Mercury nur Mittelmaß abgeliefert. Als Vorturner und Songschreiber seiner Band war er ein Gigant, aber solo hat er dürftige Discotracks zusammengeschustert. Sein Album "Mr Bad Guy" wirkt, als hätte er schnell einen Partysoundtrack für seine nächste Koksorgie gebastelt. "Barcelona", das Lied, das er 1987 mit Montserrat Caballé aufnahm, ist natürlich großartig überdrehter Neuschwanstein-Pop, aber dass es drumrum ein ganzes Album gibt, hat schon damals niemand so recht verstanden, vermutlich nicht mal Frau Caballé. Das dritte Album in dieser Box ist so etwas wie ein Best-of, was bedeutet, dass da schon wieder Stücke der anderen beiden Alben auftauchen, gemischt mit ein paar versprengten Einzelaufnahmen wie "The Great Pretender". Blue-Ray und DVD zeigen, wie zu erwarten, Liveaufnahmen von Mercurys Soloauftritten. Klar, kann man alles so machen. Freddie Mercury ist 1991 gestorben, die Hoffnung der Plattenfirma mag sein, dass inzwischen neue Fans nachgewachsen sind. Aber eigentlich tut man Mercury mit dieser Box keinen großen Gefallen, sein Solowerk ist in jeder Hinsicht zu dünn. Es genügt, zum Vergleich kurz das erste Greatest-Hits-Album von Queen aufzulegen, und ... tja. Genau.

Als das Rock'n'Roll-Faktotum Lemmy Kilmister vor vier Jahren starb, bemühten sich viele, in ihren Nachrufen ganz doll nach Whiskey und Lederstiefeln zu klingen. Er selbst hätte darüber vermutlich müde gelächelt, mit Nachahmern konnte er nicht viel anfangen. Sein Ding war ja: nicht groß links und rechts schauen, laut, schnell, geradeaus. 1979 veröffentlichten Motörhead gleich zwei Alben in einem Jahr, erst "Overkill", dann "Bomber". Beide erscheinen jetzt noch mal als "Anniversary Editions", vollgestopft mit Klassikern, "Damage Case", "No Class", "Capricorn", die die Band schon beisammen hatte, noch bevor sie sich an ihr epochales Album "Ace Of Spades" machten. Wie viel brachiale Kraft in diesem Trio steckte, zeigt auch die neue Mammut-Zusammenstellung "1979": 66 Songs aus nur einem Jahr. Ja, da war eine Menge Speed im Spiel. Schwung genug für Lemmy Kilmister, um noch 36 Jahre durchzuhalten.

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SZ vom 22.10.2019
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