Süddeutsche Zeitung

Parcours für kleine Zuschauergruppen:Die Spannung halten

Eine Heimkehr ins Nichts: Das Münchner Residenztheater lädt zu einer ersten Trainingseinheit nach dem Lockdown. Ein Besuch.

Von Christine Dössel

Es ist ein erhebendes Gefühl, wieder in einem Theater zu sitzen. Es fühlt sich ein bisschen wie Heimkehr an. Schließt man auf seinem Platz im Parkett des Münchner Residenztheaters die Augen, ist es ein süßes Vergnügen, sich in die prickelnde Gespanntheit eines Premierenabends hineinzuversetzen. Das Surren der Stimmen und das rituelle Gewusel, bis alle auf ihrem Platz sind. Grüßend sich zunickende Köpfe. Schau mal, wer da ist! Die leise Hoffnung, der Sitz vor einem werde frei bleiben. Der kurze Groll, wenn sich dann doch ein Riese hinpflanzt. Die Handtasche positionieren. Der erste Blick ins Programmheft. Magst du auch ein Bonbon? Noch mal aufstehen für die Als-letztes-sich-in-die-Reihe-Zwänger. Nein, nein, ist schon in Ordnung. Dann der Moment, wenn die Saaltüren sich schließen und das Licht ausgeht, dieser magische Moment, wenn das Theater beginnt ...

Augen wieder auf und der Realität ins Antlitz geblickt: Vor einem ein schwarzes Nichts. Der Eiserne Vorhang heruntergelassen, die Reihen bis auf vier Menschen leer. Stille. Warten. Den Blick hoffnungsvoll auf die Bühne gerichtet. Wo aber nichts passiert. Schließlich erhebt sich die Frau im weißen Jackett in Reihe eins, dreht sich zu uns versprengten paar Zuschauern um und sagt: "Ansonsten funktioniert es wie ein normales Theater."

"Der Raum macht eigentlich alles mit"

Es ist die Schauspielerin Barbara Melzl, und der Text, den sie spricht, ist aus "Olympiapark in the Dark", einer spinösen Inszenierung von Thom Luz im Marstall, in der Melzl als Teil einer Orchestertruppe die Theaterräumlichkeiten erklärt, mit Sätzen wie "Der Raum macht eigentlich alles mit" oder "Man hat sich hier auch schon des öfteren ausgezogen". Sätze, die nun, gesprochen im leeren Residenztheater, eine ganz besondere Wirkung entfalten. Wie eine Erinnerung an glücklichere Tage. Melzl wird die vier Zuschauer alsbald auf die Bühne bitten. Und da stehen wir dann mit ihr, auf Augenhöhe, aber schön auf Abstand, auf den Brettern, die uns eine Welt bedeuten. Unten das Meer aus leeren Sitzreihen. Bevor wir durch eine "Zaubertür" im Eisernen Vorhang dann noch tiefer in den Bauch der Bühne vordringen, erklärt Melzl, dass man als Schauspielerin "die Spannung halten" müsse, "und dann loslegen". Sie meint die Körperspannung. Aber in dieser coronabedingten Theaternotzeit ist das natürlich viel grundsätzlicher zu verstehen.

"Die Spannung halten - und dann loslegen", das umreißt ganz gut die Stimmungslage, in der viele Bühnen sich derzeit befinden und aus der heraus das Münchner Residenztheater, das Resi, nun eine erste Wiederbegegnung mit Publikum initiierte. Offiziell dürfen die Bühnen in Bayern - später als etwa in Nordrhein-Westfalen, Hessen oder Baden-Württemberg - erst nach den Pfingstferien ihre Pforten wieder öffnen, und dann natürlich auch nur unter Corona-Bedingungen. Deshalb ist es auch kein richtiges Stück, das das Resi zur Wiederbelebung zeigt, sondern ein "Theater-Parcours": ein geführter Gang durchs Haus mit kurzen szenischen Einlagen hier und da - eine Behelfsform, derer sich auch andere Theater bedienen. So kam gerade erst in Stuttgart ein solcher Parcours heraus, eine groß angelegte Kooperation aus Schauspiel, Ballett und Staatsoper (SZ vom Wochenende).

Der Resi-Parcours ist nicht so opulent, auch gar nicht immer stimmungsvoll. Inhaltlich gibt es zwischen den sehr unterschiedlichen Kurzdarbietungen keinen Zusammenhang, keinen Bogen. Man muss sie eher wie eine Trainingseinheit nehmen, eine Muskelübung des Theaters. Um in Bewegung und mit dem Publikum in Kontakt zu bleiben. Die Sehnsucht auf beiden Seiten ist spürbar groß. Umso trauriger, mit welcher Schrumpfform von Theater man sich derzeit begnügen und welche Einschränkungen man hinnehmen muss.

Mund-Nasenschutz und Handdesinfektion sind für die Zuschauer ebenso Pflicht wie die persönliche Registrierung. Man wird in zwei Gruppen mit je vier Leuten eingeteilt. Gruppe A sieht auf ihrem Parcours andere Szenen als Gruppe B. Ein Parcours umfasst sechs Stationen und dauert 60 Minuten. Im Zehn-Minuten-Takt schafft das Theater sechs Slots pro Gruppe und Stunde. Macht bei drei Stunden rund 144 Menschen, die pro Spieltag durchgeschleust werden. Die Maske muss auf bleiben, auch wenn die Schminke darunter verläuft. An jeder Station stehen Aufpasserinnen, die Anweisungen geben und einen danach weiterführen. Auf dem Boden Markierungen: Genau da gilt es, sich aufzustellen, vom Nebenmann jeweils einsfünfzig entfernt.

Eigentlich müsste sich das Bühnen-Paar jetzt an die Wäsche gehen, aber daraus wird nichts

Noch weiter weg sind die Darsteller, denen man auf diesem Theaterpassionsweg begegnet. Elias Eilinghoff und Noah Saavedra bringen im Eingangsbereich knarzend zwei Celli wie aus einem langen Tiefschlaf zum Erwecken. Oben in der "Schönen Aussicht" sieht man durch das Panoramafenster raus auf den Theatervorplatz, wo Lisa Stiegler im langen Glitzerkleid ihren Text aus "Leonce und Lena" in ein Mikro spricht, welches ihre Stimme direkt in den Raum überträgt. Sie wechselt sich ab mit Yodit Tarikwa und Benito Bause, die vom Regen unbeirrt einen fröhlichen Song zum Besten geben. Im Regen stehen auch Myriam Schröder und Johannes Nussbaum, wenn sie am Ende im Schmuckhof ihre Annäherungsszene aus "Die Verlorenen" von Ewald Palmetshofer spielen. Ohne Anfassen natürlich, auch wenn sie sich auf der Bühne nun eigentlich an die Wäsche gehen würden. Aus demselben Stück ist auch die Passage, die Steffen Höld in der verwaisten Resi-Kantine vorträgt. Viele Tische entfernt mit einer Flasche Bier sitzend, erzählt er von der nächtlichen Begegnung eines Autofahrers mit einer konfrontativen Hirschkuh. Ringsum schwere Leere, die Kantinenstühle hochgestellt.

Die beiden Routen führen über enge Treppen, durch Stahltüren und Gänge auch in die Eingeweide des Theaters, auf die Hinter- und Seitenbühne, in den Requisitenfundus, die Transportzone, die Hydraulikwerkstatt. Räume, die darauf warten, wieder in Betrieb genommen zu werden und eine trübe Melancholie verbreiten. Die Schauspieler, auf die man an den einzelnen Stationen trifft, verstärken das Verlustgefühl. Viele von ihnen kennt man noch gar nicht richtig. Andreas Becks Ensemble ist neu am Haus. Dadurch, dass gleich bei Saisonstart auch schon eine Premiere wegbrach, sind manche noch nicht zum Zug gekommen.

Was für eine versaute Spielzeit! Selbst wenn nach dem 15. Juni noch einige Inszenierungen gezeigt werden sollten - dann coronatauglich zurechtgebogen, auf eine Stunde gekürzt und beschränkt auf 50 Zuschauer -, ist das kein großer Trost mehr. Man würde die Schauspieler gerne leidenschaftlich und grundsätzlich feiern. Doch der Applaus, den ein Vierergrüppchen zu spenden imstande ist, klingt kläglich. Und unser Lächeln verbirgt der Mundschutz.

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Quelle:
SZ vom 08.06.2020/cag
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