Süddeutsche Zeitung

Residenztheater München:Der Axtmörder

Absurde Rutschpartie: Max Frischs "Graf Öderland" in der Regie von Stefan Bachmann am Münchner Residenztheater. Nach der Netzpremiere jetzt endlich live.

Von Christine Dössel

Ein Mord ist geschehen. Ein Kassierer hat den Hauswart einer Bank erschlagen. Mit einer Axt. Einfach so. Ein Mord aus dem Nichts heraus. Er steht als grundstürzende Tat am Anfang von Max Frischs "Graf Öderland" - eine Tat, die vor allem die Hauptfigur des Stücks, den Staatsanwalt Martin, schwer erschüttert. So sehr, dass er statt zu den Akten selber zur Axt greift und zum Mörder wird, ja, zum Anführer einer ganzen Bewegung. Der Casus hat Verstörungspotenzial. Ein Mord aus Rache, aus Eifersucht, aus niederen Motiven ließe sich erklären, kategorisieren, verurteilen. Aber ein Mord ohne Grund? "Das ist wie ein Riss in der Mauer", sagt Martin. Man kann drübertapezieren, aber der Riss bleibt. "Und man fühlt sich nicht mehr zu Hause in seinen vier Wänden - das Absurde ist da."

Das Absurde ist da! Das gilt ganz besonders für Stefan Bachmanns Inszenierung des Stücks im Münchner Residenztheater, die jetzt endlich Premiere hatte. Herausgekommen war sie als Koproduktion bereits 2020, kurz vor Beginn der Pandemie, am Theater Basel, und der eine oder die andere hat sie vielleicht auch schon als Fernsehaufzeichnung gesehen. Denn die Schreckensrevue war im Mai eingeladen zum - in diesem Jahr rein digitalen - Berliner Theatertreffen und wurde von 3sat aufgezeichnet. Live entwickelt sie noch einmal eine ganz andere Bild- und Sogkraft.

Das Stück spielt in der irrationalen Logik und Szenerie eines Traums - auf einer riesigen Trichterbühne

"Graf Öderland", uraufgeführt 1951 in Zürich, gilt als das Lieblingsstück von Max Frisch. Er hat drei verschiedene Fassungen geschrieben, aber keine hat sich durchgesetzt. Was an Bachmanns Inszenierung dieser selten gespielten "Moritat in zwölf Bildern" fasziniert, ist ihre surreale Albtraumdeutung, die etwas Beängstigendes, unheilvoll Dräuendes entwickelt. Wo Frisch ein realistisches Setting vorgibt - Juristenwohnung, Gefängniszelle, Grand Hotel, Kanalisation, Regierungspalast -, spielt die Handlung bei Bachmann (er ist Intendant am Schauspiel Köln und Schweizer wie Frisch) in der irrationalen Logik und Szenerie eines Traums. Olaf Altmann hat ihm dafür einen gigantischen schwarzen Trichter gebaut - ein Teil, das ausschaut wie ein ins Bühnenportal gepresstes Monumentalgrammophon: vorne bühnenfüllend rund, nach hinten sich verjüngend zu einem Loch, durch das die Schauspieler einsteigen und sich auf der abschüssigen Trichter-Rutschbahn irgendwie halten und bewähren müssen. Sie straucheln, suchen Halt, machen groteske Verrenkungen - und fallen oder gleiten dann mehr oder weniger sanft herunter. Es ist eine bizarre Rutschpartie in den menschlichen Abgrund. Mit Tunneleffekt.

Auf die schiefe Bahn gerät man auf dieser Bühne automatisch. Steffen Höld ist, in Sträflingskleidung, der kleine Kassierer, der Mörder ohne Motiv, der aus purer Langeweile gehandelt hat. Wie er da in der Hocke im schwarzen Nichts des Trichters sitzt und zufrieden eine Dose Bohnensuppe löffelt, scheint es ihm im Knast ganz gut zu gefallen. Endlich ist in seinem Leben mal etwas passiert. "Zum Glück hat der Mensch nicht immer eine Axt bei der Hand", sagt der Gendarm einmal. Nicht auszumalen! Staatsanwalt Martin aber hat eine, und mit der zieht der vormals tadellose Beamte, dessen Leben aus nichts als Arbeit bestand, alsbald wie ein Amokläufer durchs Land. Aufstand eines Wutbürgers - oder vielleicht auch eines Aktenhubers mit Burnout. Sein Beispiel jedenfalls macht Schule, die Menschen erkennen in ihm den mythischen (von Frisch als Legende erfundenen) "Graf Öderland mit der Axt in der Hand" und folgen ihm wie einem Rebellenführer. Was sie antreibt, bleibt unklar. Es ist eine wüste Parabel, die sich auf ein rechtsnationales Protestbürgertum à la Pegida oder die amerikanischen Kapitol-Stürmer ebenso beziehen lässt wie zum Beispiel auf die Querdenkerbewegung.

Thiemo Strutzenberger spielt den verstörten Staatsanwalt - mit Anzug, Krawatte und Max-Frisch-Brille - als einen zutiefst im Inneren Getroffenen, Taumelnden, mit schiefer Haltung und somnambul in die Ferne gerichtetem Blick. Ein Mensch im Ausnahmezustand, todtraurig und entrückt bis in seine Sprechweise hinein. Er hat dafür beim Theaterteffen den 3sat-Preis erhalten, gewürdigt als ein "Hochrisiko-Öderland". Das ist verdient.

Eine expressionistische Horror-Groteske mit Splatter- und Stummfilmzitaten

In der Regie von Stefan Bachmann wird der Ausbruch aus der bürgerlichen Existenz zur Horror-Groteske: mit expressionistischen Gesten und Posen, Bildzitaten aus Splatter- und Stummfilmen, Anleihen bei "Nosferatu", Tim Burton, Tarantino, aber auch bei Malern wie George Grosz oder Otto Dix mit ihren grell überzeichneten Zwanziger-Jahre-Figuren. Die Köhler im Wald sind lustige, dick ausgestopfte Zausel mit Holzfällerhemden und Fellmützen. Wenn Inge (Linda Blümchen), die sich einen Öderland schon lange ersehnt hat, zwecks privatem Ausbruch ihren Vater tötet, zieht sie ihm wulstige Stoffdärme aus dem Leib. Rote Äxte werden vor dem Trichter in den Bühnenboden gerammt. Theaterblut spritzt, wenn der rasende Anwalt auf seine Frau Elsa (Barbara Horvath) und deren Lover Dr. Hahn (Simon Zagermann) einschlägt. Woraufhin diese aber wieder aufstehen, wie das in einem Traum so ist.

Links und rechts von der Trichteröffnung sind vier Musiker postiert, die das surreale Treiben angemessen düster, aber auch moritatenhaft keck begleiten und auch mal Rammstein-Töne anschlagen. Die Öderland-Revolte führt die Aufständigen buchstäblich in den Untergrund, in die Kanalisation, und von dort in die Residenz, wo Öderland auf die Herrschenden und die Frage der Machtübernahme trifft. Hier ist Bachmanns Regieaxt dann aber schon stumpf. Die "Herren der Lage" skandieren, mit baumelnden Ratten in den Händen, ihren Text in einem zackig-rhythmischen (unsauberen) Sprechgesang im Takt des Klaviers, und noch bevor das eigene Hirn einen Schlag versetzt bekommen hätte, ist die Sache auch schon aus. Licht an. Erwachen. Allgemeines Augenreiben. Wenn das nur ein Angsttraum war, dann aber kein privatistischer: "Man hat mich geträumt", sagt Strutzenberger. Der Satz hallt finster nach.

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