Süddeutsche Zeitung

Kroetz und O'Neill am Residenztheater:Von Geilheit und Habsucht

Das Münchner Residenztheater zeigt "Der Drang" von Franz Xaver Kroetz und "Gier unter Ulmen" von Eugene O'Neill.

Von Egbert Tholl

Doppelpremiere am Münchner Residenztheater: Am Freitag kam "Der Drang" von Franz Xaver Kroetz im Marstall heraus, am Samstag folgte Eugene O'Neills "Gier unter Ulmen" im großen Haus. Man sollte nicht auf die Idee kommen, aus der Nähe der beiden Premieren eine dramaturgische Absicht abzuleiten, sie ist schlicht coronabedingte Koinzidenz - "Der Drang" hätte schon vor zwei Jahren gezeigt werden sollen. Dennoch: Am Ende wirkt das eine wie ein Satyrstück, auf das die aus hartem Stein herausgehauene Tragödie folgt, beide Stücke spielen in hermetischen Systemen, in die die Lust, die Habgier, der Drang hereinbrechen. Einmal führt das zu einem, man kann es nicht anders sagen, grandiosen Herumgevögele, einmal zur völligen Zerstörung jedes möglichen Glücks.

Siegfried Unseld, damals der Chef des Suhrkamp-Verlags, wollte "Der Drang" nicht verlegen, das Stück war ihm zu grob. Doch er übersah dabei, dass es, bei aller Überschaubarkeit des Geschehens, zu einem herrlichen Theaterfutter taugt, was Kroetz 1994 in eigener Regie in seiner Uraufführungsinszenierung an den Münchner Kammerspielen bewies und was Lydia Steier nun wiederholt. Die Amerikanerin kennt man vor allem als bildgewaltige, einfallsreiche Opernregisseurin, aber vor langer Zeit hat sie sich viel mit Sprechtheater beschäftigt, während ihres Studiums in New York auch mal einen Text von Kroetz inszeniert. Ihre profunde Musiktheaterexpertise merkt man ihrer Inszenierung an: Es herrscht ein hochpräziser Mechanismus des durchgeknalltes Irrsinns.

Lydia Steier inszeniert eine reine Achtzigerjahrehölle - es ist zum Schießen

Blake Palmer hat ein hübsches, rundes Ding auf die Bühne gestellt, ein blinkendes Karussell, in das wie Tortenstücke vier enge, pastellfarbene Räume eingebaut sind, und weil das Ganze in einer Friedhofsgärtnerei spielt, stehen auch ein paar Grabsteine und ein Gewächshaus herum. Zu Beginn hört man von Nicki "Wenn i mit dir tanz" - nicht nur vom durchlaufenden Schlagersoundtrack, auch von der Ausstattung her ist die Inszenierung die reine Achtzigerjahrehölle, aber barocke Trompetenpracht gibt es auch, dann nämlich, wenn die Gelüste am anderen Leib mal Erfolg zeitigen.

Das ist zunächst nicht der Fall. Die Hilde und ihr Mann Otto, denen die Gärtnerei gehört, versuchen sich am Beischlaf, und nicht nur weil Nicola Kirsch und Christoph Franken in Kostümen stecken, die ihre Physiognomien ausbeulen, und ihre Gesichter solariumrot sind, ist dies ein freudloses und deshalb für das Publikum sehr lustiges Unterfangen. Der Otto würde auch gern mal hinten rein, das will die Hilde schon gleich gar nicht, und später kommentiert der Otto das mit den Worten: "So fad wie das Vögeln mit der da ist mir nicht einmal das Scheißn, da hab ich wenigstens die Süddeutsche dabei." Danke, Herr Kroetz, für diese Hommage.

Dann kommt der Fritz, der Bruder von der Hilde (mit dem "Drang" schrieb Kroetz sein Stück "Lieber Fritz" von 1971 fort). Der Fritz war zwei Jahre im Gefängnis, weil er seine exhibitionistischen Anwandlungen nicht im Zaum hatte, jetzt wird er zum auslösenden Moment, und Vincent Glander schaut dabei ganz verdattert, bevor er eine glanzvolle Broadwaynummer hinlegt. Zunächst aber fällt die Mitzi, die auch in der Gärtnerei arbeitet, über den Fritz her, weil sie ihn für einen Sadisten hält und das interessant findet, dann vögelt sie sich mit dem Otto gymnastisch anspruchsvoll durch alle Räume des Tortenstückhäuschens, bis die vor Eifersucht rasende Hilde mit dem Vorschlaghammer der Ausstattung den Rest gibt.

Bei diesen Vorgängen leuchtet die süchtig machende Sprache von Kroetz in allen möglichen Kunstdialektfarben, alle vier spielen aufgedreht herrlich, und Liliane Amuat, die Mitzi, erweist sich als begnadet überlegene Komikerin. Der Erkenntniswert tendiert zwar gegen null, aber das Publikum kichert und gackert unentwegt, der anwesende Autor ist glücklich, und man selbst fragt sich, ob man in diesen Zeiten lachen darf, wenn man lachen muss. Nach der Aufführung sammeln die Schauspieler für die Ukraine; das Residenztheater bringt mit einem eigenen Lkw Hilfsgüter an die ukrainische Grenze und will mit Frauen und Kindern zurückkehren.

Biblisch, archaisch, monochrom: Bei Evgeny Titov ist "Gier unter Ulmen" eine steinharte Tragödie

Evgeny Titov, geboren 1980 in Kasachstan, ließ auf die Homepage des Residenztheaters ein Statement stellen: "Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eine furchtbare Katastrophe! Das Blutvergießen unserer ukrainischen Brüder ist eine Schande für jeden Russen! Und ich möchte nicht, dass nun jeder Russe als Unterstützer dieses Krieges verdächtigt wird! Tausende und Abertausende von Russen protestieren in vielen Städten Russlands, überwinden ihre Angst und riskieren ihr Leben, das Leben ihrer Kinder und Angehörigen!" Titov ist der Regisseur von "Gier unter Ulmen".

Macht Kroetz sich übers Geschlechtliche lustig, ist es bei O'Neill der Urgrund einer Katastrophe. Doch die herrscht schon, wenn es losgeht: Die Bühne von Duri Bischoff zeigt nicht den Hof des alten Ephraim Cabot, sondern eher dessen Ruine, eine schroffe Felsszenerie. Die beiden älteren Söhne hocken um ein Feuer herum, verblödete oder traumatisierte Gestalten, die Simon Zagermann und Niklas Mitteregger mit falschem Gebiss und linkischen Bewegungen als verlorene Kreaturen spielen. Die beiden wollen weg, in den Westen, Gold suchen, sie verschwinden auch bald und tauchen erst beim Schlussapplaus wieder auf.

Dieses Verschwinden ist nicht die einzige Seltsamkeit in O'Neills Stück. Es ist ein Dreiecksdrama zwischen dem alten Patriarchen Ephraim Cabot, seiner neuen, dritten, jungen Frau Abbie und seinem jüngsten, schönen Sohn Eben. Allein bei der nüchternen Beschreibung dieser Konstellation ahnt man, was passieren wird. Und es passiert. Erst ist da die Gier des Alten nach seiner jungen Frau, dann bricht eine schmerzvolle Leidenschaft zwischen Abbie und Eben aus, ein Kind wird geboren, und Abbie bringt es brutal um, weil sie in bizarrer Verzweiflung glaubt, es stünde der Liebe zwischen ihr und Eben im Weg. Und hinter alldem lauert die Gier nach Besitz, nach dem Hof, von dem Eben überzeugt ist, der gehöre ihm, als Erbe seiner toten Mutter, die als Geist durch die Aufführung wandert: Dora Garcidueñas singt die Abschiedsarie der Dido aus Purcells Oper; das "Remember me" ist an ihren Sohn gerichtet.

Im Text kann man vielleicht noch ein paar Subtilitäten entdecken, in der Aufführung macht Titov denen den Garaus. Dröhnende Blacks separieren die Szenen, dazwischen drängt Titov alle Schauspieler zu monochromen Figuren, alles ist biblisch, archaisch, frei von Nuancen. Oliver Stokowski ist ein durch und durch eisenharter Patriarch, Noah Saavedra ein ewig verzweifelter Schwärmer. Und Pia Händler vom ersten Auftritt an nur laszive Gier. Titov arrangiert ihren Leib einmal wie zu einem symbolistischen Gemälde; das ist seltsam schön, rettet einen aber auch nicht aus diesem grob zurechtgezimmerten Theatermuseum.

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