Eugène Labiches "Die Affäre Rue de Lourcine" ist ein sehr lustiges Stück. Der Rentier Lenglumé erwacht am Morgen mit einem Riesenkater, er hatte sich am Vorband ohne Wissen seiner Gattin Norine zu einem Treffen alter Schulfreunde geschlichen. Das Treffen war offenbar profund. Neben sich im Bett findet er Mistingue, der ebenfalls beim Besäufnis dabei war. Zwei Herren, zwei Kater, zwei Gedächtnislücken. In diese Lücken fällt eine Notiz, die Norine in der Zeitung liest: Eine Kohlenträgerin sei ermordet worden. Und da die Hände der beiden Herren schwarz von Kohlenstaub sind und noch weitere Indizien vorhanden sind, glauben die beiden, sie seien die Mörder. Was zu abenteuerlichen Volten führt.
Labiche schrieb 1857 einen echten Theaterboulevardkrimi, der das Publikum anlockt wie der Honig die Bären. Das Stück jetzt aufzuführen, ist vielleicht genau die richtige Wahl, in dieser Postcorona-Zeit, in der die Theater die Zuschauer umgarnen müssen. Insofern alles richtig gemacht am Münchner Residenztheater - die kommenden zehn Vorstellungen, die auf die Premiere folgen, sind bereits ausverkauft.
So lustig wie erhofft wird aber es nicht werden. Den ersten Hinweis darauf liefert bereits die Besetzung, denn dort steht, unter den Namen der fünf Darstellenden - außer dem Ehepaar Lenglumé und Mistingue gibt es noch die Hausangestellte Justine und den Vetter Potard - Christoph Karstens als Livekameramann. Labiches Stück kann man, gerade in der Übersetzung von Elfriede Jelinek, einfach runterinszenieren, wenn man präzise ist und gute Schauspieler hat. Da braucht es eigentlich kein Gedöns. Nun hätte der Regisseur András Dömötör zwar auch gute Schauspieler; aber denen fällt es schwer, sich gegen die tausend Ideen zu behaupten, die Dömötör hat, ohne eine einzige davon konsequent zu verfolgen.
Im Rausch kann jeder zum Mörder werden
Es beginnt damit, das sieht man im Video, dass Thomas Lettow als Lenglumé nicht erwacht, sondern wie ein Ertrinkender an die Oberfläche treibt und dann tatsächlich leibhaftig aus dem Unterbau auf die Bühne kraxelt, wo sich ein Konstrukt aus acht Kuben befindet, in die Sigi Colpe lustige Sachen eingebaut hat, unter anderem eine räumlich vorhandene Gedächtnislücke aus einem schwarzen Lamellenvorhang. An den Wänden kleben Geldscheine - das Bürgertum hat seine Moral längst verloren, was nicht in Ordnung ist, regelt man mit Geld, auch die beiden Saufkumpanen, sie sind bei Dömötör tatsächlich zwei Seiten derselben Medaille, sorgen sich weniger darum, dass sie vielleicht jemanden ermordet haben, sondern mehr darum, dass es herauskommen könnte.
Nun also treten auf: Barbara Horvath als Justine, die manchmal mit trockenem Humor Ungarisch redet, mit Übertiteln, und später als befremdlicher Geist herumtappt. Pujan Sadri als Potard, der meist äußerst freundlich und ziemlich entzückend herumsteht. Mareike Beykirch als Norine, der Dömötör einen Hauch von aufgeklärter Emanzipation mitgibt, sie aber gleichermaßen auch als treusorgendes Heimchen inszeniert, wenn sie nicht gerade das Baby der Lenglumés spielt. Beykirch ist hier wirklich arm dran, Lettow und Michael Wächter als Mistingue geht es ein bisschen besser. Die beiden komödiantisch Hochbegabten schaffen sich zumindest Momente, in denen sie mit elastischem Timing die Komödie ausspielen können.
Ansonsten rast alles. Mal schauen die Menschen waagrecht aus einem der Kästen, dann wird sehr viel gesoffen, weil das immer lustig ist, schließlich mündet alles ins Kino. In den Katakomben des Residenztheaters - die Ortsbesichtigung ist interessant - machen sich Lenglumé-Mistingue daran, Zeugen ihrer Tat zu beseitigen, man sieht einen Ad-hoc-Splatterfilm, der aber viel zu fahrig ist, um wirklich Albtraum zu sein. Schon klar, im Rausch kann jeder ein Mörder werden, ist es vielleicht sogar, da gibt Dömötör dem Ganzen noch eine Andeutung mit, obwohl der Mord eigentlich lange her ist, denn die Zeitung, in welcher Norine davon las, war alt. Dazu kommen noch ein paar Theaterscherze übers Theater, in ihrer zusammengestöpselten Outrage stolpert die Inszenierung permanent über sich selbst, enthält aber genug Witze, um das Publikum immer wieder zu großem Gelächter zu animieren. Also sei's drum.