Reportageliteratur:Wie in Stundenhotels die Zeit vergeht

Von Badelatschen und Verrichtungsboxen: In ihrem Reportage-Band "Rotlicht" unternimmt Nora Bossong Streifzüge durchs Sex-Gewerbe.

Von Christoph Schröder

Die Erotikmesse Venus in Berlin gilt mit mehr als 400 Ausstellern aus fast vierzig Ländern als die größte Fachmesse für, so die offizielle Sprachregelung, "Internet-, Multimedia- und Adult-Entertainment". Wer sich auf Recherche nach dem Geschäft mit der Sexualität und der Lust begibt, kommt an der Venus nicht vorbei. Eine Frau auf einer Bühne, so beschreibt es Nora Bossong, führt sich einen Analdildo ein. Ein durchschnittlich aussehendes Paar betrachtet die Szene; währenddessen streichelt der Mann seiner Frau zärtlich den Nacken. Ein paar Meter weiter vollzieht eine Frau in der offenen Tür eines VW-Busses den Cunnilingus an einer anderen Frau. Dazu dröhnt ein Song aus den Lautsprechern: "Ich fahre den Bumsbus / Deine Mama will Zungenkuss / Drum trage ich Mundschutz / Hohoho!" Ist das alles sehr traurig? Oder unfreiwillig komisch? Oder beides zugleich?

Man erfährt in Nora Bossongs "Rotlicht" aufschlussreiche Details über die heimlichen Freizeitaktivitäten in diesem Land: "Die Datenmenge, die von der Porno-Website YouPorn übertragen wird, überbietet längst die von YouTube, und es ist mehr als nur ein Witz, wenn manche behaupten, ohne den immensen Pornokonsum im Netz bräuchten wir den Breitbandausbau nicht so dringend."

"Rotlicht" ist ein Hybrid, Reportage und literarischer Essay, der auf hohem Reflexionsniveau konkret bei seinem Gegenstand bleibt. In der Fußballersprache würde man sagen: Nora Bossong ist, stets in männlicher Begleitung, dorthin gegangen, wo es wirklich wehtut, wo sich Einsamkeit und Geilheit in kommerzialisierten Kontexten zu einem häufig deprimierenden Gesamtbild vermischen. Es verschlägt sie in einen Berliner Swingerklub, in dem es in etwa so ungezwungen zugeht wie auf dem Ordnungsamt und wo auf einem tristen Buffet Nudelsalat zur Stärkung bereitsteht (die offenbar obligatorischen Badelatschen nicht zu vergessen). An die Ravensberger Straße nach Dortmund, wo in sogenannten Verrichtungsboxen im Jahr 2007 circa 500 Prostituierte den größten Straßenstrich Deutschlands bildeten; Frauen, die fast allesamt aus derselben Stadt, dem bulgarischen Plovdiv, stammten. Und in einem gespenstischen Kellergewirr in Hamburg irrt Bossong gemeinsam mit unerlösten Männern durch die Halbdunkelheit von Kinosälen, sieht traurige Onanisten und Touristinnen, die sich offenbar tatsächlich freiwillig zum Gruppensex hierher begeben haben.

Zu Beginn benutzt Bossong das Wort "Sexarbeiterin" problemlos, später wird es ihr fragwürdig

Was sucht sie dort? Zum einen, versteht sich, Erkenntnis über den Zusammenhang von drastischer Offenheit des eigentlich Privaten und Lustgewinn. In der hell ausgeleuchteten Sauberkeit professioneller sexueller Akte erkennt Nora Bossong zugleich auch den Geheimnisverlust: "Klärt uns die omnipräsente Pornografie auf oder verschließt sie unseren Blick, unser Gefühl für die eigene Sexualität?"

Reportageliteratur: Wo sich Einsamkeit und Geilheit deprimierend vermischen: Fassade eines Bordells.

Wo sich Einsamkeit und Geilheit deprimierend vermischen: Fassade eines Bordells.

(Foto: Reinhard Eisele/Mauritius Images)

Erst wenn man erfährt, mit welchen nach heutigen Maßstäben harmlosen Produktionen der selbst ernannte Schweizer Pornokönig Edi Stöckli, der zum Interview standesgemäß in Limousine mit Chauffeur vorfährt, Skandale ausgelöst hat, erschließt sich das Ausmaß der heute selbstverständlich gewordenen Tabubrüche.

Das Reizvolle an "Rotlicht" ist nicht zuletzt die fragile Position des erzählenden Ich. Es verfügt über keine fest gefügten moralischen und ästhetischen Maßstäbe, vielmehr ändert sich seine Position je nach Gesprächspartnern und deren Argumentationslinien, und es befragt im Fortgang der Reportage auch das eigene Empfinden von Erotik.

Früher, so erzählen die Mitarbeiterinnen in einem Wohnungsbordell, sei alles besser gewesen; die Freier hätten noch Respekt gehabt und anständig bezahlt. Heute, so heißt es an anderer Stelle, fühle eine Sexarbeiterin sich gut behandelt, wenn sie nicht geschlagen werde. Überhaupt, das Wort "Sexarbeiterin". Bossong benutzt es zu Beginn wie selbstverständlich, in Anerkennung dessen, dass es sich dabei um einen ebenso ehrenwerten und legitimen Beruf handelt wie jeder andere.

Doch im Verlauf der Recherchen kommen Zweifel auf: Stimmt das überhaupt? Zunehmend gerät Bossong das eklatante Missverhältnis zwischen männlicher und weiblicher Lust in den Blick. Ist der Sexberuf ein Ausdruck des vermeintlichen Rechts des Mannes auf Geschlechtsverkehr? Sind weibliche Körper lediglich ein Instrument der Triebabfuhr? Gibt es in diesem Beruf überhaupt die Möglichkeit, seine Würde zu behalten?

In einem Stundenhotel (auch das gibt es noch) mietet sich Nora Bossong mit zwei ungarischen Frauen ein, um sich zu unterhalten. Sie lässt sie ausreden, sonst nichts. Es ist eines der stärksten Kapitel. Man erfährt darin sehr viel, nicht nur über Arbeitsbedingungen, sondern vor allem auch über die europäische Wirklichkeit, über Abhängigkeiten, familiäre Verpflichtungen, finanzielle Zwänge. Nora Bossong ist auch in ihren Romanen eine Autorin mit starker Anbindung an gesellschaftliche Realitäten. "Rotlicht" erscheint als eine konsequente Fortschreibung - mit einer auffälligen Leerstelle am Schluss.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch Rotlicht stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Gemeinsam mit einem Freund geht Bossong in einem Wohnungsbordell mit einer jungen Bulgarin, Jelena, auf ein Zimmer. Sie verhandeln den Preis für Sex zu dritt; Bossong bezahlt mit EC-Karte. Das werde unauffällig abgebucht, verspricht man ihr. Jelena ist ebenso unsicher in dieser Situation wie ihre beiden Besucher. Und dann: Schnitt. Was in diesem Zimmer tatsächlich geschehen ist oder nicht, erfahren wir nicht. Man(n) wird einwenden, das sei prüde, dabei ist es in Wahrheit nur konsequent: Bossong entzieht sich der mythischen Überhöhung des Milieus. Sie hält den distanzierten Blick auf unsere durchsexualisierte Gegenwart bis zum Ende aufrecht. Oder anders gesagt: Sie schützt das Intime gegen den Voyeurismus.

Nora Bossong: Rotlicht. Carl Hanser Verlag, München 2017. 240 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.

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