Süddeutsche Zeitung

Reportage:Zur schönen Aussicht

Athen wird neben Kassel das zweite Zentrum der Documenta im kommenden Jahr. Doch wie macht man Kultur, wenn nach sechs Jahren Krise alle Strukturen zusammengebrochen sind - und der letzte Cent verbraucht ist?

Von Alex Rühle

Das Zeit-Magazin fing im vergangenen Jahr damit an: Athen ist das neue Berlin! Der Bayerische Rundfunk fand das dann auch - absolut, neues Berlin. Andere sekundierten; Athen, das neue Berlin, hat die New York Times auch behauptet, außerdem kommt ja jetzt die Documenta. Die Athener, denen man den Neuesberlinsatz versuchsweise hinhält, schauen einen freilich an, als sei man der neue Vollidiot.

Also: stimmt, es gibt in dieser Stadt, ähnlich wie im Berlin der Nachwendezeit, viel Leerraum, der kreativ erobert wird. Im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Verlassene Gebäude wie die alte Börse oder das ehemalige Hotel Bageion am Omonia-Platz wurden von den Kuratoren der Kunstbiennale zu großartigen Ausstellungskulissen umfunktioniert. Umtriebige Menschen haben im vergangenen Jahr in einstmals grauen Vierteln wie Psyrri oder Pangrati beeindruckend viele leer stehende Häuser zu originellen Cafés und Restaurants umgerüstet - ja, es gibt diese Momente wie im Kinderfilm: Man tritt durch eine winzige alte Tür und steht plötzlich in einer fantastischen Welt, für die drei Ruinen nebst Innenhof in eine spektakuläre Clublandschaft verwandelt wurden. Im Kunstzentrum Vyrsodepseio, das sich in einer ehemaligen Fabrik niedergelassen hat, wurde für das Theaterstück "Meta" kürzlich das Foyer mit Wasser gefüllt und das Publikum mit Booten von der Treppe zur Bühne gebracht.

"Das letzte Fett ist weg", mit diesem Bild beschreiben viele Athener die Situation

Es gibt auch den anderen Leerraum, der dadurch entsteht, dass staatliche Strukturen zusammenbrechen, alle politischen Versprechen und Visionen zu Leerformeln wurden und nun in den Trümmern nach brauchbaren Resten für eine bessere Zukunft gesucht wird. Aber Berlin? Stellvertretend ein Zitat des deutsch-griechischen Intendanten Prodromos Tsinikoris: "Athen? Soll das ein Witz sein? In Berlin gibt es Jobs, und du wirst trotzdem für drei Euro satt. Hier gibt es nichts, aber alles kostet ein Schweinegeld." Vielleicht kann man sich erst mal darauf einigen: Das Berlingerede ist wie Vergleiche nach Athen zu tragen.

Und noch etwas, apropos sattwerden: Gleich drei Leute antworteten auf die Frage, wie es Griechenland im sechsten Jahr der Krise gehe, mit demselben Bild: "Das letzte Fett ist weg." Wegen Syrien, Flüchtlingskrise, Trump kriegt man es nicht mehr so mit in Deutschland, aber das wirkliche Drama geht hier gerade erst los, alle Reserven sind aufgebraucht, jetzt geht's an die lebenswichtigen Organe. Man sieht plötzlich viele Obdachlose, die Säuglingssterblichkeit hat sich verdoppelt, ein Drittel der Griechen hat keine Krankenversicherung mehr. Dass der staatliche Kulturetat da praktisch auf null geschrumpft ist, - das bisschen, was es gibt, geht für die Archäologie drauf - kann man kaum jemandem zum Vorwurf machen.

Trotzdem und umso beeindruckender: Kulturell passiert gerade viel in Athen. Im Großen wie im Kleinen. Das ganz Große ist natürlich die Documenta 14, deren Leiter Adam Szymczyk einhellig gefeiert wurde für seinen Entschluss, die Documenta diesmal in Kassel und Athen gleichzeitig stattfinden zu lassen. Als Zeichen der Solidarität. Aber auch als Kooperation: Was kann der satte, reiche Norden lernen von einer Stadt, die an der Peripherie liegt und ums Überleben kämpft? Die Documenta lassen wir hier ausdrücklich beiseite, schließlich wird sie bald schon in allen Feuilletons das große Thema werden, im April wird es ja losgehen mit dem offiziellen Programm.

Darum hier lieber mal die Frage: In welchem kulturellen Umfeld findet diese Documenta statt? Was gibt es in dieser Stadt überhaupt noch an Strukturen? Die Umsätze auf dem griechischen Buchmarkt sind seit 2010 um die Hälfte zurückgegangen. Die Musikindustrie liegt am Boden, es gibt keine Plattenlabels mehr, Musiker treffen sich in kleinen Clubs, meist leider ohne Gage. Die schon erwähnte Biennale für zeitgenössische Kunst kämpft ums Überleben. Wer also sorgt hier für Neues?

Die vielleicht beeindruckendste Form der Umwandlung eines aufgegebenen Ortes haben die Leute vom "Romantzo" hinbekommen. Vor fünf Jahren war das noch die Ruine eines ehemaligen Druckereigebäudes, Romantzo war in der Nachkriegszeit so etwas wie der Stern von Griechenland, das größte Magazin des Landes.

Das Gebäude liegt in der kleinen Anaxagora-Straße, wenige Minuten Fußweg vom zentralen Omonia-Platz. Viele Jahre haben sich normale Athener gar nicht mehr in dieses Viertel reingetraut: Die Häuser waren vollkommen runtergewohnt, Müllhaufen lagen mitten auf der Straße. Als der Grafiker Vasilis Charalambidis zusammen mit einigen Freunden das Druckereigebäude übernahm, um es zu restaurieren, fingen sie auch an, die ganze Straße mitzurenovieren, reparierten an den umliegenden Häusern Laternen und Türen, installierten Regenrinnen, malten Fassaden an. "Da war diese Nachbarin, die ihren Müll aus dem Fenster warf. Ich hab ihr gesagt, sie soll das lassen. Als sie antwortete, sie habe Angst, runter zu den Mülltonnen zu gehen, habe ich täglich bei ihr geklopft, mir die Tüte geben lassen und sie in die Tone geworfen. Das war ihr dann so peinlich, dass sie das Ganze seither selber macht."

Charalambidis setzte also auf eine Art umgekehrte Broken-Window-Theorie. Wenn erst mal einer seine Fenster repariert und schön anmalt, kommen die anderen hinterher. Hat geklappt: Die Gegend hatte seinerzeit keinen eigenen Namen mehr, Charalambidis und seine Freunde nannten sie (nach einer anderen Straße in der Gegend) Gerani. Heute kennt das Gerani-Viertel jeder. Cafés haben aufgemacht, Designer sind hergezogen, für skeptische deutsche Leser mag das nach der üblichen Gentrifizierungsformel klingen, aber in Athen kann man froh sein, wenn diese Formel irgendwo ansatzweise aufgeht.

Das Romantzo selbst beherbergt heute eine Club-Galerie, ein Café und einen Konzertsaal. Vor allem aber ist das Gebäude ein Zukunftslabor: 21 Büroräume werden an junge Start-ups, Architekten, Designer, NGOs, Fotografen vermietet, zeitlich begrenzt auf drei Jahre. Am Anfang müssen die Untermieter gar nichts zahlen, dann steigt die Miete gestaffelt an, nach drei Jahren sollten sie auf eigenen Füßen stehen und Platz machen für die nächsten.

Demnächst wird das lichte, neue Kulturzentrum dem Staat übergeben - ob das wohl gutgeht?

"Platz für Neues": Das könnte man als thematische Stadtführung anbieten. Hier, sehen sie, das Embros, einst Verlagsgebäude, dann Theater, dann Ruine, jetzt Kultur- und Bürgerzentrum; im Westen der Stadt der "Technopolis"-Komplex, einst ein Kohle-Gas-Kraftwerk, heute Museum, Ausstellungsparcours, Clublandschaft. Der Parko Eleftherias, in dem seit Anfang des Monats die ersten Vorveranstaltungen für die Documenta stattfinden. Oder hier, die Nebenbühne des Nationaltheaters. Stand jahrelang leer. Innerhalb nur eines Jahres haben die beiden jungen Deutschgriechen Prodromos Tsinikoris und Anestis Azas diese Experimentalbühne zu einer Sauerstoffdusche umgewandelt; wer Zeit hat, schaue sich "Die süße Tyrannei des Ödipus" an, eine Adaption des alten Sophokles-Dramas, wobei die Schuldfrage hier krisenkompatibel umgemünzt ist: Wer steht heute ein für die Schuld, die wir alle auf uns geladen haben ... Geld hat das Theater eigentlich keines, finanziert aber rund 15 Produktionen im Jahr.

Man müsste sich dann tatsächlich noch die blühende Street-Art-Szene ansehen, könnte einige kleine Galerien im anarchistischen Exarchia-Viertel abklappern, wobei Prodromos Tsinikoris kopfschüttelnd fragt, was die deutschen Touristen immer mit diesem Viertel hätten: "Das finden echt nur die Touristen toll, die mal bisschen Revolution schnuppern wollen."

Wie auch immer - enden müsste solch eine Führung durch das neue kulturelle Athen aber unten am Meer, im gerade eröffneten Stavros-Niarchos-Kulturzentrum, in dem die Nationaloper und die Nationalbibliothek untergebracht werden sollen.

Man merkt anfangs gar nicht, dass man das Gebäude bereits betreten hat: Der größte Teil der Bibliothek liegt unter einem ebenfalls neu angelegten Park, durch den man sanft bergan schreitet, auf den weiten Himmel und eine riesige Terrasse zu, auf der an diesem Vormittag sicher neunzig Leute stehen, überwältigt vom Panorama: auf der einen Seite ein kleiner Hafen und das blaue Wasser, auf der anderen das Athener Häusermeer.

Das umliegende Viertel heißt Kallithea, schöne Aussicht. Die Aussicht gab es zuvor nicht mehr, die Athener hatten sie sich selbst verbaut mit einer achtspurigen Stadtautobahn. Jetzt ist sie endlich wieder da, die schöne Aussicht. Auf die Stadt, aber auch auf dieses Gebäude selbst, dessen schwebendes Flachdach leicht und dünn wirkt wie ein Segel. Gebaut hat das Ensemble aus Licht und Leichtigkeit Renzo Piano. Das Ganze hat, genau wie geplant, 566 Millionen Euro gekostet, es wurde, genau wie geplant, in diesem Sommer fertig, und es wird, anders als geplant, schon jetzt überrannt: Obwohl die Oper und die Staatsbibliothek erst im Lauf des kommenden Jahres einziehen werden, haben sich die Athener das Gebäude selbst bereits erobert, weil ihnen Piano hier einen Park, öffentlichen Raum und dank dieser Dachterrasse eine neue Perspektive geschenkt hat.

Ungefähr zwei Kilometer Luftlinie von hier liegt das Stegi, das Kulturzentrum der Onassis-Stiftung. Onassis und Stavros Niarchos waren zwei der größten Reeder, und ihre beiden Stiftungen sind in Zeiten, da der Kulturetat auf 0,3 Prozent des Staatshaushalts geschrumpft ist, zu den wichtigsten Geldgebern für Kulturarbeit geworden: Das Romantzo hätte seine Umbauarbeiten ohne die Niarchos-Stiftung nie bezahlen können, fast alle Inszenierungen, die Prodromos und Azas in ihrem Theater zeigen, wurden ebenfalls von Niarchos-Geldern finanziert. Die Stavros-Niarchos-Stiftung wird das herrliche Kulturzentrum Anfang 2017 an den griechischen Staat übergeben, und die Athener sprechen davon wie von einer großen Drohung. Zumindest in der Hinsicht stimmt der Berlin-Vergleich, der griechische Staatsapparat ist ähnlich dysfunktional und chaotisch wie die Berliner Verwaltung.

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Quelle:
SZ vom 29.11.2016
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