Gegen Nachmittag war sogar die Sonne rausgekommen und hatte vor dem Imbiss Lichtspiele veranstaltet, als wüsste sie, dass sie etwas gutzumachen hat in diesem vermurksten, halbverregneten Sommer. Schon bald hatte die übliche Kakofonie wieder angehoben, die Stimmen von Kindern, Erziehungsberechtigten sowie Nichterziehungsberechtigten, die auch immer was zu rufen haben; der sonderbar beruhigende Lärm der Liegewiesen, Bauchklatscher und Beckenränder, von denen niemand ins Wasser geschubst werden sollte, aber immer wieder mal wird.
Es folgt der Auftritt zweier etwa zehn Jahre alter Jungen. Noch bisschen scheu, aber schon sehr breitbeinig marschieren sie in den kühlen Pavillon und wollen weder Eis noch Cola. Sondern: "Mal reinfassen."
"Dürfen wir mal reinfassen?", fragen sie.
"Ihr dürft mal reinfassen", sagt Nele Heinevetter.
Vier Hände fahren daraufhin in einen Trog mit kleinen, grünblauen Glibberkugeln. Die Kinder machen Geräusche wie Erwachsene, die nach langem Durst ein Bierchen kriegen.
"Darf ich eine mitnehmen?"
"Darfst du nicht", sagt Heinevetter freundlich.
Die Laufkundschaft besteht aus maximalen Outsidern: Kindern in Badehosen
Es wäre sachlich nicht unzutreffend, die junge Frau mit den kurzen, blonden Haaren als Pommesbuden-Betreiberin zu bezeichnen. Aber daneben und ursprünglich ist sie eben Kunsthistorikerin, Kuratorin, Kunstpädagogin wäre auch kein falscher Begriff. Sie führt die Geschäfte bei "Niche", einer Firma für Architekturführungen, und sie hat lange im Schinkelpavillon gearbeitet, einem dieser Orte, wo sich die Insider des Berliner Kunstbetriebs mit kritischer Kennermiene begrüßen.
Verglichen damit besteht ihre Laufkundschaft seit diesem Sommer überwiegend aus maximalen Outsidern. Den Kindern in den Badehosen erzählt sie lieber nicht, dass die Arbeit mit den glitschigen Kügelchen, welche die Künstlerin Zoë Claire Miller in einem Fachhandel für Deko-Materialien besorgt hat, sich unter anderem "mit weiblicher Masturbation und kollaborativer Entgrenzung" beschäftige. Das steht so in den Zetteln, die auf dem Tresen ausliegen.
Die Kinder bekommen zu hören, dass man hier sehen könne, wie wichtig das schiere Befühlen von Dingen für das Glücklichsein sei. Das sehen die ganz genauso und wenden es unmittelbar auf das Wasser in der sensationell kurvenreichen Rutsche an. "Rutschen, in den Glibber greifen, wieder rutschen", sagt Heinevetter: Millers Kunstwerk zählt inzwischen zu den Highlights beim Badbesuch.
Umgekehrt kann man sagen, dass eine der sympathischsten und nicht zuletzt rezeptionsästhetisch interessantesten Ausstellungen zur Zeit in keiner Galerie und keinem Kunstverein stattfindet, sondern im "Sommerbad Humboldthain". Das aber liegt in Berlin-Wedding, und der Wedding ist künstlerisch bisher eher unterdeterminiert. Der Maler Otto Nagel hatte sich hier in der Weimarer Republik an den proletarischen Mietskasernen abgearbeitet sowie immer wieder mal auch an den tröstlichen Parkanlagen des Humboldthains.
Otto Nagel kannte in der DDR jedes Schulkind. Aber vom Wedding aus gesehen lag die DDR ein paar Hundert Meter weiter südlich hinter einer Mauer. Diese Mauer existiert immateriell bis heute, nur dass jetzt da unten im alten Stadtbezirk Mitte seit einem Vierteljahrhundert eine internationale Boheme "lebt und arbeitet", wie das in den Künstlerbiografien dann immer so schön heißt, während hier oben im Wedding ein ganz anders, oft migrantisch geprägtes Milieu lebt, arbeitet oder hartzt. Selbst Künstler, die der Mieten wegen ihre Ateliers im Wedding haben, bleiben sozial auf ihre angestammten Reservate orientiert und wussten bisher oft nicht, dass es da dieses überraschend schöne Freibad gibt.
Einen angespitzten Strohhalm in ein Safttütchen bohren - das ist es!
Aber Nele Heinevetter wusste das. Sie wohnt zwar auch in Mitte, schwimmt aber gern vor der Arbeit ein paar Bahnen, schon weil man dabei so wunderbar nachdenken kann. Als sie hier irgendwann die frühen Öffnungszeiten abschafften, wich sie für eine Weile in das andere Bad im Wedding aus, an der Seestraße, freundete sich mit dem Imbissbetreiber dort an, fand sich auf Gartenstühlen sitzend in Diskussionsrunden türkischstämmiger Gastronomen oder Ärzte wieder, und das war alles nicht so uninteressant, wenn die Art von Kunst, mit der man sich beschäftigt, nie so ganz losgelöst sein will von dem, was im Rest der Welt so passiert.
Heinevetter ließ sich ermutigen, nach der Gastronomie im Humboldthain zu fragen. Die Bäderbetriebe suchten einen neuen Pächter; sie nahm einen Kredit auf für das Geschäft und beantragte Geld vom Hauptstadtkulturfonds für die Kunst. Das bekam sie, und so gibt es seit Ende Juni nun "Tropez", so heißt der Ort, und "Pool", so heißt die Ausstellung.
Heinevetter hat ein paar Arbeiten ausgeliehen, die ihr vorher aufgefallen waren, und die wie eigens angefertigt in die Räume passen: ein Bademantel aus Keramik von Kris Lemsalu zum Beispiel, der wie eine Mischung aus etwas Fossilem und etwas Essbarem in der Kuchenvitrine steht, oder Alejandro Almanza Peredas Video über Gemüse, das nach der Art von Juan Sánchez Cotán in einer Nische liegt, hängt oder astronautenhaft herumkollert. Es hilft, wenn man den sehr spanischen Alltagsmystizismus dieses Barockmalers kennt; Gott wandele auch zwischen den Kochtöpfen, hieß es damals. Aber es ist nicht zwingend, um darüber in meditativer Andacht zu versinken.
Die Begleitmusik nach dem Renaissancekomponisten Antonio de Cabezón tut das Ihre; sie klingt tatsächlich, als höre man sie unter Wasser. Andere Arbeiten wurden für den Imbiss angefertigt, wirken aber, als wären sie auch als etwas ganz anderes lebensfähig. Die modulare Skulptur von Hervé Humbert, die an den Wochenenden als Bühne für Performances und Diskussionen dient, erfordert mehrmals am Tag den Hinweis, dass dies kein vom TÜV abgenommenes Klettergerüst sei.
Anderes sieht aus wie Kunst, ist aber Ware: Das Regal voller "Capri Sonne"-Tütchen wirkt von Ferne wie was Teures von Damien Hirst und ist von Nahem natürlich etwas noch viel Wertvolleres, nämlich Kindheitserinnerung. Gibt es eine hinreißendere Kombination aus Nostalgie und Daseinsbejahung, als nach all den Jahren mal wieder einen angespitzten Strohhalm in eine Tüte "Capri Sonne" zu bohren? Und eine glücklichere Dialektik als die, die sich zwischen Bratfett, Kartoffeln und Mayonnaise einerseits sowie andererseits Sport, Körperlichkeit, letztlich Sex auftut? Das Freibad ist sehr eindeutig auch das, was der im Kunstbetrieb immer noch recht populäre Philosoph Michel Foucault als Heterotop bezeichnet hat, ein Ort mit eigener gesellschaftlicher Dynamik.
Wenn der Wedding gentrifiziert wird, würde man diesem Projekt wohl die Schuld geben
Gleichzeitig bündeln sich hier die sozialen Erfahrungssphären der Stadt. Das "Tropez" hat etwas von dem Häuschen am See, das alle haben, die es sich leisten können, nur öffentlich und mitten im Zentrum. Es erinnert Heinevetter an die Jugend in der westdeutschen Provinz, eine Welt zwischen Fanta und Flutschfingern, aber diese Provinz ist eine internationale.
An ruhigen Sonntagen kann man hier den französischen Künstler Cyprien Gaillard mit dem neuseeländischen Künstler Simon Denny Schach spielen sehen. An weniger ruhigen Sonnentagen sieht man die Securitykräfte dazwischengehen, wenn junge Männer mit herausgestreckten Brustkörben aufeinanderzustolzieren, was daran erinnert, dass letztes Jahr der Begriff "Schwimmbad" fast als Synonym für Gewalt, sexuelle Übergriffe, gescheiterte Multikulturalität durch die Presse ging.
Die Konnotationen von Paradies und Problemviertel überlagern sich latent auch vor Heinevetters Terrasse. Sie wartet praktisch täglich darauf, für die Gentrifizierung verantwortlich gemacht zu werden, die dem Wedding auch ohne sie blüht. Gleichzeitig hat sie gelernt, dass die türkischen Kinder auf der Packung sehen wollen, ob die Currywurst wirklich halal ist, dass der Ramadan sie aber wiederum nicht grundsätzlich davon abhält, Pommes frites zu ordern.
Deren Rolle im Konzept von "Tropez" kann man auch kulturell gar nicht unterschätzen. "Jeder mag Pommes", sagt Heinevetter. Sie passten zu allen Religionen und Lebensstilen, selbst zu Veganern und Laktoseintoleranten. Es ist vielleicht der kleinste, sicher der fettigste gemeinsame Nenner, den wir haben. Eine von Heinevetters Mitarbeiterinnen, Britin, empfiehlt Pommes sogar, um damit Vanilleeis zu löffeln. In den nächsten zwei Wochen wird ein dänischer Koch als "artist in residence" das Thema weiter erforschen.
In dieser Tiefe wurde im Freibad noch nie über Pommes frites nachgedacht, dazu mussten erst die Leute aus dem Kunstbetrieb kommen. Die wiederum mussten aber auch erst Badesachen anziehen, um auf die Diskursfähigkeit der Fritteusen zu stoßen.
Noch bis 3. September / www.tropeztropez.de