Es sind Bilder der kollektiven Erinnerung, die 60 Jahre BRD aussehen lassen wie ein Familienalbum. In solchen Alben kennt man auch die Fotos, die man nicht kennt. Da ist Schröder unter dem kühn auskragenden Vordach. Wie so oft eine Spur zu jovial. Wim Duisenberg, damals Vorsitzender der Europäischen Zentralbank, stakst mit eckigen Beinen von rechts heran, und Schröder winkt ihn grinsend weiter - als wolle er sagen: Wim, noch mal eine Runde ums Haus, aber flott jetzt.
Dann Schmidt, versonnen am Flügel, endlich einmal ohne seine attributive Zigarette, dafür mit Loki, im gemeinsamen Wohnzimmer, das so smart sein will mit seinem hellen Mobiliar wie ihr Kurzhaarschnitt. Oder Brandt, in Partylaune mit Romy Schneider vor dem Haus. Dagegen merkwürdig in sich zusammengesunken, neben Queen Elizabeth, Zimmergrün und gelben Vorhängen: Kohl. Schließlich Erhard im Gegenlicht seines großzügig dimensionierten Arbeitszimmers, voluminös über einem Buch ruhend.
Und Kiesinger, der Nixon mit viel Kristall und Silber bewirtet und so gar keinen Spaß zu haben scheint. Seine Wohnstatt auf Zeit, den Bonner Kanzlerbungalow, der bis November 1964 vom Münchner Architekten Sep Ruf im gewaltigen, sanft zum Rhein hin abfallenden Park des Palais Schaumburg errichtet wurde, fand er "elend".
Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und zuletzt Gerhard Schröder: Das waren die Bewohner eines denkwürdigen, mal mehr, mal weniger geliebten deutschen Hauses. Die Bilder, die in der allerdings recht übersichtlich geratenen Ausstellung zur Geschichte des nun mit den Mitteln der Wüstenrot Stiftung restaurierten Baudenkmals zu sehen sind, geben auch Aufschluss über die Freunde und Gegner des Hauses.
Obwohl es nicht nur Begegnungsstätte und Gästehaus, sondern auch privater Rückzugsraum der Kanzlerfamilien sein sollte, war es von Anfang an in öffentlicher Weise umstritten, ein Ort der Reibung, der nicht nur seine Bewohner zur Stellungnahme herausforderte. Wie kraftvoll und zugleich bescheiden das Kanzlerhaus noch immer wirkt, kann nun öffentlich überprüft werden. Denn nach seiner Wiedereröffnung als reine Begegnungsstätte wird der Kanzlerbungalow an diesem Donnerstag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
In verschiedenen Zeitschichten kann man den Bewohnern nachspüren, ihre innenarchitektonischen Vorlieben und Abneigungen studieren. Wobei der Bungalow, ostentativ modern mit fließend ineinander übergehenden Räumen hinter viel Glas entworfen, auch Abbild einer deutschen Architektur-Debatte ist, die schon damals zwischen Modernisten und Traditionalisten unterscheiden wollte - aber daran scheitern musste.
Ludwig Erhard, der 1963 nach Konrad Adenauer ins Kanzleramt gewählt wurde, gab sich stets bodenständig. Nach außen hin schien er kein Mann der Avantgarde zu sein. Das hinderte ihn nicht daran, sich schon am Tegernsee ein Privathaus von seinem Nachbarn, dem Architekten Sep Ruf, bauen zu lassen. Ruf hatte zuvor (zusammen mit Egon Eiermann) den deutschen Pavillon für die Brüsseler Weltausstellung 1958 errichtet - als bewusstes Gegenstück zu Albert Speers megalomanem Nibelungen-Auftritt auf der Pariser Weltausstellung Ende der dreißiger Jahre.
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Erhard sympathisierte nicht nur mit der zeitgenössischen Architekturauffassung Rufs, der heute zu den bedeutendsten Vertretern der internationalen Nachkriegsmoderne zählt: Er wusste solches Bauen auch als politisches Signal zu nutzen. Im Zweifel wird Erhard die Qualität Rufs gar nicht völlig klar gewesen sein. Ruf war kein Epigone der Bauhaus-Moderne, sondern einer ihrer Erneuerer, der ästhetische Probleme letztlich immer aus einem humanen Denken heraus zu lösen suchte. Erhard spürte aber instinktiv, dass der neue Kanzlerbungalow als zeitgenössisch formulierter Bau ihn nicht nur gegen seinen Vorgänger Adenauer abgrenzen würde, sondern auch das Land selbst gegen die Vergangenheit.
Deshalb wurde der Bau als flachgedeckter Bungalow, also als eingeschossiges, zum Teil extrem aufgeglastes Haus ausgeführt. Einfühlsam in die fein modulierte Topographie des Parks implantiert, fügen sich zwei Atrien-Baukörper mit unterschiedlichen Höhen und Dimensionen zu einer liegenden, leicht gegeneinander versetzten Acht unter einem gemeinsamen, die Horizontale akzentuierenden Dach zusammen und durchdringen sich auf räumlich staunenswerte, dabei lässige Weise.
Inmitten des nach außen verschlossen wirkenden, verklinkerten Wohnbereichs ruht ein uneinsehbarer Pool, auf den fast alle Wohnräume ausgerichtet sind. Im Zeitalter maßstabsloser Wellnessbadewannen, die Zyklopen oder ganze Schulklassen aufnehmen können, wirkt der Pool winzig. Er ist vielleicht drei auf sechs Meter groß. Dennoch kam es zum Skandal. Wegen des Minischwimmbads wurde das Haus Erhards als "Ludwigslust" beschimpft und als "Palais Schaumbad" (es lag in Nähe des Palais Schaumburg). Erhard tat uns und seiner Zeit den Gefallen: Er schäumte vor Ärger, die Presse wurde zum Richtfest prompt wieder ausgeladen. So viel zu Transparenz und demokratischer Offenheit, die der Bau vorstellen sollte.
Vor allem der zweite Teil der liegenden Acht, der öffentliche Bereich, der einen mit einem mächtigen Kamin versehenen Innenhof umlagert und im Gegensatz zum nur 142 Quadratmeter großen Wohnbereich mit voluminösen, fast vollständig einsehbaren Raumfluchten aufwartet, fungiert als Botschafter demokratischer Architektur. Zugleich wollte Erhard seiner eigenen Modernität Ausdruck verleihen. Er sagte: "Sie lernen mich besser kennen, wenn Sie dieses Haus ansehen, als etwa, wenn Sie mich eine politische Rede halten sehen."
Deutschland sollte damit aller Welt zeigen, dass es sich zurückmeldet in die internationale Gemeinschaft. Der "International Style", die Weiterentwicklung der Moderne zum globalen Architektur-Esperanto, zeichnet deshalb auch den Kanzlerbungalow aus. Und obwohl der Internationale Stil leider nur selten die Rufschen Qualitäten hervorgebracht hat, muss man sagen: Der Kanzlerbungalow ist nicht gerade ein Case Study House geworden.
Internationalismus und demokratische Gebärde waren nicht allein formgebend. Ruf kannte etwa die Einraumphilosophie des "Glass House", das Philip Johnson 1949 (zusammen mit Richard Foster) in Connecticut errichtet hat. Oder das "Farnsworth House" von Mies van der Rohe in Illinois, 1951. Vor allem aber erinnert der Bonner Kanzlerbungalow im plakativ freien Zugriff auf die räumliche Organisation an Mies' Barcelona-Pavillon 1928.
Das demokratische Fanal eines aufstrebenden Nachkriegsdeutschland war also zum Teil nur das ästhetische Kind seiner Zeit. Überdies: Nicht hinter jeder dorischen Säule steht ein blutbefleckter Diktator - und nicht jedes gläserne Haus ist ein Hort freiheitsliebender Transparenz, sonst wäre ein Kaufhaus mit großen Schaufenstern der bessere Bundestagssitz als der steinerne Reichstag - mit oder ohne Glaskuppel.
Wunschgemäß jedoch provozierte das Demokratiebau-Missverständnis Reaktionen bei Betrachtern und Besuchern. Schon unter Erhard war das Haus ein Lieblingsobjekt der zeitgenössischen Karikatur - und noch Norbert Blüm schrieb: "Der Wohnbereich hatte den Charme einer Hundehütte." Doch den Erhards gefiel es. Es war mondän möbliert mit langgestreckten Chesterfieldsofas und ausladenden Eames-Sesseln.
Zu spüren ist der Charme aber nur noch im repräsentativen Teil, der in Zukunft wieder Begegnungsstätte (etwa für Symposien) sowie Standort der kleinen Dauerausstellung sein wird. Im privaten Bereich ging es bei der Instandsetzung dagegen darum, die unterschiedlichen Zeitschichten zu dokumentieren. Nach Erhard übernahm Kurt Georg Kiesinger das Haus - und hasste es auf Anhieb. Er ließ es, heute nicht mehr spürbar, umbauen und innen nach Herzenslust mit mittelalterlichen Kunstwerken und Stilmöbeln ausstatten. Nur den Pool mochte er: "sechs Stöße Brust, Purzelbaumwende, sechs Stöße Rücken", notierte er. Und fügte stolz hinzu: "täglich".
Willy Brandt war kein Antimodernist, im Gegenteil, aber dennoch nicht zwangsläufig Bungalow-Verehrer: Im Kanzlerhaus veranstaltete er nur Arbeitsessen und wenige Empfänge. Helmut Schmidt dagegen zollte dem Haus Respekt. Er ließ den alten Zuschnitt samt Originalmöblierung wieder herstellen. Was man von Helmut Kohl nicht sagen kann, der 1983 in den Kanzlerbungalow zog und am längsten hier wohnte: 16 lange Jahre. Kohl ließ die Klinkerwände mit Stoff bespannen, dicke Vorhänge schneidern und halogenhelle Sternenhimmel erfinden.
Die Badezimmer-Armaturen lassen an beigebrauner Fliesenseligkeit nichts zu wünschen übrig. Aber: Kohl hat das Haus dennoch geschätzt. Er wohnte hier ein Jahr über seine Amtszeit hinaus. Das Kündigungsschreiben seiner Frau Hannelore gehört zu den anrührenden Dokumenten der Ausstellung. Schröder wohnte dann viel lieber im benachbarten Palais. Im Interview sagte er mal sinngemäß: bayerischer Architekt, Kohl, zu viel Holz: Bahhh. Typisch Schröder: Kohl hat mit den Holzvertäfelungen im repräsentativen Teil nichts zu tun. Die stammen von Ruf und sind keineswegs Ausdruck bajuwarischer Gemütlichkeit.
Der Kanzlerbungalow ist zweigeteilt wie die insgesamt gelungene Sanierung: Man spürt vor allem Kohl und Erhard und erlebt einen unfassbar piefigen Privatbungalow sowie einen eindrucksvollen öffentlichen Sehnsuchtsort, dazu ein gebautes, hochinteressantes Missverständnis über Demokratie und Architektur. Das Haus dokumentiert die Bonner Republik als das, was sie war: vergangene Zukunftslust. Wobei es nachdenklich macht, dass die amtierende Kanzlerin der Berliner Republik in einer Altbauwohnung nahe der Museumsinsel wohnt.
Der Besucherdienst im Haus der Geschichte organisiert kostenlose Führungen. Information unter 0228/91650 oder unter www.hdg.de