Süddeutsche Zeitung

Pollesch-Uraufführung:Boxenstopp mit Stöckelschuh

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Rasend schnell war René Polleschs Theater immer schon. Mit seinem neuen Stück "Goodyear" am Deutschen Theater Berlin ist es endgültig in der Formel 1 angekommen.

Von Peter Laudenbach

Die Frage, wie man nach den endlosen Lockdown-Monaten zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine richtige Theaterbühne betritt, ohne dass es peinlich bedeutungsschwer wird, aber auch ohne so zu tun, als sei das keine große Sache, beantwortet René Pollesch am Deutschen Theater Berlin gewohnt lässig und mindestens doppelbödig. Seine Uraufführung "Goodyear" beginnt mit einer Beerdigungsprozession, allerdings einer auffällig gut gelaunten Prozession mit scheppernder Brass-Band aus dem Off. Ein gemalter Abendhimmel leuchtet auf dem schwere Falten werfenden Vorhang des Rundhorizonts, die Scheinwerferbatterie hängt gut sichtbar ins Bühnenbild (Barbara Steiner). Klare Sache: Wir sind hier im Theater - mit Schnelltest und FFP2-Maske auch wirklich wieder im Inneren -, da sind auch Trauerzüge kein Grund zur Traurigkeit, sondern vor allem theatralisch ergiebig.

Als Sophie Rois in einer Art Geisterbeschwörung einen gewissen Henry herbeifantasiert ("Henry, bist du da?") und von dessen Schauspielkünsten schwärmt ("fürs Inhaltliche hat er sich eh nie interessiert"), ist das natürlich ein kleiner Insiderscherz für Verehrer Henry Hübchens, des Pollesch- und Rois-Kollegen aus alten Volksbühnen-Zeiten. Aber vor allem ahnt man, was da eben zu Grabe getragen wurde, um in den folgenden 75 Minuten eine hochtourige Auferstehung zu feiern: das Theater selbst, also Polleschs Lieblingsthema, an dessen Fragwürdigkeiten, Repräsentationsfallen und Jahrmarktsqualitäten er sich immer mit Vergnügen abarbeitet, egal um was es sonst noch so in seinen Stücken geht.

Die queere Antwort auf den heteronormativen Macker-Rennwagen ist ein fahrbarer Glitzer-Highheel

Diesmal geht es unter anderem um eine queere Hommage an die Testosteronspiele des Automobilrennsports und die Rennpiloten-Gattinnen, die immer ein Witwenkostüm im Reisegepäck dabei haben, weil: Falls es irgendwann mal kracht auf der Fomel-1-Strecke, will man ja wenigstens gut aussehen vor den Kameras. Die queere Antwort auf das Macker-Vehikel eines Rennwagens, als motorisierte Penis-Verlängerung sozusagen die Heteronormativität auf Rädern, glänzt an diesem Abend mit maximalem Glamfaktor: ein fahrbarer, riesiger, weißer, glitzerbesetzter Stöckelschuh, angeblich "mit 1498 Kubikzentimeter-Hubraum". Kein Wunder, dass Astrid Meyerfeldt als Rennpilotin am Steuer dieses Ungeheuers klagt, dass die "luftgekühlte 4-Zylinder-Boxer-Rennmaschine" wie ein Highheel aussieht: "Diese Homosexuellen machen mich fertig." Logisch, was sollen sie auch sonst machen mit den Überresten der archaischen Welt harter Männer. Wobei Pollesch nichts gegen das Spektakel des Rennsports als solches hat, es hat für ihn nur etwas andere Reize: Das Dröhnen der Motoren feiert die Inszenierung als minutenlange, prächtig laute Musique concrète, die zuverlässig alle Schauspielersätze übertönt: Wrrrummms!

Dass man den Titel des Abends, "Goodyear", auch als sarkastische Anspielung auf das überhaupt nicht gute Corona-Jahr verstehen kann, bleibt dankenswerterweise die einzige Pandemie-Anspielung. Ansonsten geht es um die Fortsetzung von Polleschs Assoziationsketten zu den Freuden der Popkultur, diesmal am Beispiel eines Kinderstars in Cinecittà, sowie um die Merkwürdigkeiten des Sexuellen. Etwa mit der Frage, ob ein Sexualakt ohne Zuschauer möglich ist, oder ob man sich dabei immer selbst beobachtet, wie das kleine Kind, das den eigenen Eltern verblüfft und fasziniert bei diesem seltsamen Treiben zusieht. Womit man natürlich wieder bei der Theatertheorie wäre und der Vermutung, dass spätestens im eigenen Kopf so ziemlich alles zu Theater werden kann. Große Fragen! Polleschs Antwort auf das XXL-Format seiner Themen besteht schon immer, aber an diesem Abend besonders auffällig, in einem Anti-Thesen-Sprechtheater, das lieber mit den Sätzen und Gedanken jongliert, als irgendwie recht haben zu wollen oder die Zuschauer mit Ansprüchen auf Deutungshoheit oder Überwältigungseffekten zu belästigen. Christine Groß, Astrid Meyerfeldt, Jeremy Mockridge, Sophie Rois und die umwerfende Katrin Wichmann sind offenkundig ohne größere Blessuren der theaterlosen Lockdown-Langeweile entkommen und in ihrer Spielfreude hellwach, aber Antworten auf all die eher angespielten als sauber durchdeklinierten Fragestellungen sollte man von ihnen besser nicht erwarten. Es reicht doch, sich mit den anderen durch dieses Labyrinth der Fragen zu katapultieren.

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