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René Daumals Roman "Der Berg Analog":Das magische Buch

Abenteuerroman, Fabel, Sinnsuche: René Daumals Fragment "Der Berg Analog" wirkt seit sieben Jahrzehnten auf viele Leser nahezu verzaubernd. Nun ehrt Gallimard das Werk mit einem Prachtband

Von Johanna Adorján

Es geht etwas aufregend Geheimnisvolles von diesem Roman aus, der für eine verschworene Gemeinde auf der Welt, vor allem in Frankreich und in den USA, so etwas wie ein Kultbuch ist. Er blieb unvollendet. Sein Verfasser starb während der Arbeit daran. Die Geschichte bricht nach gut hundert Seiten einfach ab, mitten in einem Satz, auf einem Komma.

"Der Berg Analog" von René Daumal erschien 1952, acht Jahre nach seinem Tod. Auf Deutsch wurde er zuletzt 2017 neu aufgelegt, in einem kleinen Verlag, dessen Sortiment aussieht, als würde die Leserschaft Aura pendeln und an Feen glauben. In Frankreich hingegen rollte das hoch bedeutende Verlagshaus Gallimard demselben Werk gerade den roten Teppich aus. Der Roman, beziehungsweise das Romanfragment bildet nur den Mittelteil des Prachtbands, dessen Cover ein sakral anmutendes Hilma af Klint-Gemälde ziert. Dazu gibt es Illustrationen, Fotos, Begleittexte, Faksimile, Interviews, ein Vor- sowie Nachwort von Patti Smith.

"Der Berg Analog" ist Abenteuerroman und Fabel zugleich. Er handelt von der Expedition einer bunt zusammengewürfelten Reisegruppe aus Paris, die den Sinn des Lebens auf einem Berg zu finden hofft. Der Ich-Erzähler, Theodor, Mitarbeiter einer Zeitschrift für Paläontologie, hat einen Artikel über seine idée fixe veröffentlicht, dass es irgendwo einen noch unentdeckten Berg gibt, höher als der Mount Everest, der das Bindeglied zwischen irdischer und göttlicher Welt ist. Überraschend bekommt er Leserpost von einem gewissen Dr. Sogol, der sich als exzentrischer Universalgelehrter herausstellt, der seine Wohnung in der oberen Etage eines Mietshauses im fünften Pariser Arrondissement wie einen Gebirgsweg ausstaffiert hat, mitsamt Steinschlag. Hier unterrichtet er höhere Töchter und Söhne in Alpinismus. Auch er ist von der Existenz dieses Berges überzeugt. Zusammen mit weiteren Bekannten machen sie sich auf die Suche. Um das Ende vorwegzunehmen, das ja nicht das Ende ist: Sie finden den Berg tatsächlich. Als der Text abbricht, sind sie allerdings noch an dessen Fuße.

Das Buch hat etwas von "Tim und Struppi", Hermann Hesse und "Kleiner Prinz"

Eine Wohnung mit Gebirgspfad, eine exzentrische Gruppe auf Weltreise, ein Guru-artiger Anführer - man hat während der Lektüre schon die Wes-Anderson-Verfilmung im Kopf, die es allerdings nicht gibt. Nur Alejandro Jodorowsky hat sich bisher an einer Kino-Adaption versucht: Sein Film "Der heilige Berg" (1973) basiert zumindest auf Motiven aus dem Roman. Um das Buch zu verehren, schadet es nicht, es schon in der Jugend entdeckt zu haben. Es ist fantasievoll und pfiffig und hat etwas von den Abenteuern von Tim und Struppi, im allerbesten Sinne. Deutsche Leser könnten sich mitunter an Michael Ende erinnert fühlen, gewürzt mit etwas Hermann Hesse, wenngleich man Daumals originellem Werk mit Vergleichen Unrecht tut. Auch Erwachsene finden darin Trost und Rat. Und Stellen, die sich zum Posten in den sozialen Netzwerken eignen, etwa diese: "Man kann nicht immer auf den Gipfeln bleiben. Man muss wieder hinunter. Wozu dann überhaupt? Darum: Das Oben kennt das Unten, das Unten kennt das Oben nicht." Ja, eine Prise "Kleiner Prinz" ist auch mit dabei.

Und eine Messerspitze Nostradamus: Der Roman endet just, als dem Ich-Erzähler dämmert, was für katastrophale Auswirkungen es hat, wenn der Mensch willkürlich ins Gleichgewicht der Natur eingreift.

Und ungefähr nochmal so spannend wie der Roman war das Leben seines Autors. René Daumal lebte nur 36 Jahre, die aber intensiv. 1908 in einem Dorf im Nordosten Frankreichs geboren, unternimmt er als Gymnasiast unter starkem Rimbaud-Einfluss mit Freunden heftige Drogenexperimente. Unter anderem inhaliert er hochgiftiges Tetrachlormethan, wobei er zur Überzeugung gelangt, in Nahtoderfahrungen einer anderen Welt begegnen zu können. Mit 17 Jahren bringt er sich selbst Sanskrit bei, übersetzt heilige indische Schriften neu ins Französische. Er entdeckt das Bergsteigen, wird begeisterter Alpinist. Mit 20 mitbegründet er in Paris die dem Surrealismus nahestehende Literaturzeitschrift Le Grand Jeu, die nach dreieinhalb Ausgaben wieder eingestellt wird, weil sich die Redaktion zerstreitet. In diesem Umfeld lernt er auch seine spätere Frau kennen, Vera Milanova, eine russische Jüdin, die er unter Umständen auch deshalb 1940 heiraten wird, um sie vor der Deportation zu retten. Er schreibt Gedichte, Artikel und übersetzt, neben Sanskrit nun auch aus dem Englischen.

Yoga, Zen-Buddhismus, heilige Tänze - und dann sein erster Roman: "Das große Besäufnis"

1930 lernt er in einem Café in Saint-Germain-des-Prés den Maler Alexandre de Salzmann kennen, einen Schüler des griechisch-armenischen Esoterikers Georges I. Gurdjieff, der in einem Vorort eine Community um sich schart. Seine spirituelle Lehre heißt "Der Vierte Weg" und ist der heutigen Achtsamkeitsbewegung nicht unähnlich. Ziel: das Potential, das in jedem Menschen schlummert, zu erwecken und auszuschöpfen. Zu den vielen namhaften Künstlern und Persönlichkeiten, die sich in Gurdjieffs Kreis bewegen, gehörte unter anderem Frank Lloyd Wright. Auch Daumal wird nun Schüler Gurdjieffs, dessen Philosophie im "Berg Analog" widerhallen wird.

Er interessiert sich für Yoga, Zen-Buddhismus, heilige Tänze. Vorübergehend ist er Pressesprecher des indischen Tänzers Uday Shankar (Bruder des berühmten Sitar-Spielers Ravi Shankar). Ein erster Roman entsteht: "Das große Besäufnis" (1938). Es geht um Abgrund und Exzess. Trotz schwächelnder Gesundheit - wohl eine Spätfolge der Drogenexperimente - zieht es Daumal auf die Gipfel der Pyrenäen und Alpen. Auch nachdem bei ihm eine weit fortgeschrittene Tuberkulose festgestellt wird, unheilbar, sucht er weiter die schwindelerregende Höhe der Berge, vielleicht jetzt erst recht.

Während des Zweiten Weltkriegs verlassen er und Vera Paris, wechseln ständig das Domizil. Zurück in der Hauptstadt nimmt Daumal die Arbeit an einem Roman wieder auf, den er Jahre vorher begann: "Der Berg Analog". Mit seiner Gesundheit geht es rapide bergab, irgendwann kann er das Bett nicht mehr verlassen, doch er schreibt weiter. Eine Woche vor seinem Tod macht ein Freund das letzte Foto von ihm: Daumal liegt angezogen im Bett, weißer Hemdkragen unterm Pullover, sein Bart ist dunkel, er guckt traurig in die Kamera. Diese Aufnahme, entstanden im Mai 1944, hat Patti Smith schwer berührt: "Ich sah ihn im Fieber, den Kopf auf Kissen gestützt", schreibt sie im Nachwort. "Er ersehnte sich nichts mehr. Er spürte eine Kraft, die so greifbar war wie der Wind. Er sah, wie der junge Baum sich bog, das Blut in der Hand sang, die Stille der Liebe. Und während die Erde sich entfernte, spürte er ein Pochen, einen Hauch auf seiner Wange. Die elastische Erinnerung an ein kommendes Leben."

Patti Smith ist dem Zauber seines Werks und seiner Person verfallen- er ist wie ein Bruder

Hier kann man ihn spüren, den Zauber, der vom Werk und der Person René Daumals bis heute ausgeht. Die ohnehin für die Werke toter Franzosen leicht zu begeisternde Patti Smith jedenfalls ist René Daumal verfallen. Er sei wie ein Bruder für sie, bekannte sie, es vergehe kein Tag, an dem sie nicht an ihn denke. Ihr 2020 erschienenes Album (zusammen mit Soundwalk Collective) hat sie nach der erfundenen Währung benannt, die auf dem Berg Analog gilt: "Peradam".

Aber nicht nur in Patti Smiths Werk lebt Daumals Roman weiter. Seit vergangenem Frühjahr wird der Himmel über Paris jede Nacht mit ihm als Lichtinstallation bestrahlt: Der Künstler Philippe Parreno setzte der Säule neben François Pinaults neu eröffnetem Museum "Bourse de Commerce" eine LED-Leuchtturmhaube auf, in der für jedes Wort des Romans eine Farbe gespeichert ist. "Mont Analogue" heißt das Werk. In Los Angeles gibt es einen bekannten Plattenladen namens "Mount Analog" (Schwerpunkt Vinyl), in Seattle gibt den Independent Bookshop "Mount Analogue", in Stockholm eine gleichnamige Kreativ-Agentur. Irische Videokünstler beziehen sich ebenso auf das Werk wie armenische Kunstausstellungen, man kommt bei der Googlesuche aus dem Finden gar nicht mehr heraus. Inzwischen gibt es sogar einen wirklichen, echten, realen Berg Analog: Eine 3170 Meter hohe Erhebung in der Westantarktis wurde in den 1970ern nach dem Roman getauft.

Sie alle finden etwas in der Geschichte, die ein Mann, der sein Leben der Sinnsuche gewidmet hatte, im Wissen um seinen nahenden Tod schrieb. In diesem Märchen, in dem Daumal heiter und ernst eine äußere Reise beschreibt, die zugleich eine innere ist, auf der Menschen durch Glauben Berge versetzen können, auf denen man Schritt für Schritt zu einer höheren Weisheit gelangt.

Vielleicht liegt es gerade an seinem fehlenden Ende, dass der Roman nach wie vor einen solchen Reiz auszuüben vermag. Das finale Komma lässt sich als Aufforderung nehmen, eigene Antworten zu finden, den ganz eigenen Berggipfel. Immerhin einen zarten Hinweis, was für ein Ende Daumal vorschwebte, gibt es: "Ich habe gerade die ersten beiden von neun oder zehn Kapiteln einer Geschichte geschrieben, die die Fortsetzung des ,Großen Besäufnis' wird, sozusagen sein Gegenstück", schrieb Daumal 1939 in einem Brief an einen Freund: "ein Ausblick in eine Welt, in der es das Wahre, Gute, Schöne gibt. Geschichten, die unglücklich ausgehen, mochte ich nie." Happy End also, wie auch immer man hinfindet.

"Les Monts Analogues de René Daumal", Verlag Gallimard (auf Französisch), 232 Seiten, 39 Euro.

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