René Burri in Lausanne:Geboren in der Dunkelkammer

Eine Ausstellung in Lausanne zeigt den legendären Fotografen René Burri als Grafiker, Zeichner - und als unbekümmerten Bildbearbeiter.

Von Joseph Hanimann

Der bildhungrige Schwadroneur und selbstironische Dandy René Burri hat ein noch lang nicht vollkommen erfasstes Archiv hinterlassen. Vor seinem Tod 2014 schuf er eine Stiftung auf seinen Namen und übertrug die Betreuung des Nachlasses dem auf Fotografie spezialisierten Elysée-Museum in Lausanne.

Zehntausende Papierabzüge und Kontaktbögen, 170 000 Farbdias, 150 Skizzenhefte, zwei Dutzend Filmrollen, nebst Notizbüchern, Collagen und Briefen: Das ist viel Material selbst für ein Haus wie das Musée de l'Elysée, das auch Bestände von Robert Capa, Werner Bischof und Sabine Weiss verwahrt.

So wollte man dort Burris Vermächtnis zum Thema einer Ausstellung machen. Sechzehn Jahre nach der Retrospektive, die der Fotograf 2004 an jenem Ort noch selber mitgestaltet hatte, wird das Wahrnehmungs- und Gestaltungsspektrum dieses Augenmenschen in seiner ganzen Breite vorgeführt. Über das zur Jahrhundertikone gewordene Porträt Che Guevaras und die berühmten Großstadtansichten hinaus lernt man einen Mann kennen, der seine visuelle Unersättlichkeit neben der Kamera auch mit dem Malstift stillte und nie ohne Zeichenblock aus dem Haus ging.

Burri scheute sich auch nicht, zwei Aufnahmen zu einer zu montieren

Dabei wäre der 1933 in Zürich Geborene ursprünglich gern Dokumentarfilmer geworden. An der Kunstgewerbeschule erlernte er aber zunächst die Fotografie und ließ nach einer ernüchternden Erfahrung als Kameraassistent bei einer Walt-Disney-Produktion über die Schweiz die Filmkarriere dann bleiben. Dies fiel ihm umso leichter, als die angesehene Fotoagentur Magnum ihm schon im Alter von 22 Jahren eine Reportage abnahm und ihn 1959 zum vollwertigen Mitglied machte.

Burri reiste durch Spanien, Deutschland, die Türkei, Syrien, Brasilien, China, dokumentierte die Schließung und später die Wiedereröffnung des Suezkanals, fotografierte Le Corbusier, Picasso, Giacometti, porträtierte 1962 beim Treffen der Gruppe 47 in Berlin Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und Günter Grass. Er schoss ein Jahr später in Kuba für die Zeitschrift Look die berühmten Bilder von Che mit Zigarre und war auch beim Mauerfall in Berlin wieder zugegen. Sein Schweizer Pass erleichterte ihm das Hüpfen aus einem Flugzeug ins nächste.

Im Unterschied zu vielen Kollegen wie Henri Cartier-Bresson, dem Freund und Kollegen bei Magnum, lag für René Burri die Leistung des Fotografen nicht primär im Knipsen zum genau richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, sondern im Geschick bei der Nachbereitung der Bilder. Wichtiger als das Bild im Sucher war ihm das Ergebnis auf der gedruckten Seite.

Insofern war dieser Mann kein Fotograf der Schnappschüsse, obwohl er sich der Bedeutung der schnellen Reaktion bewusst war. Bilder seien wie Taxis zur Hauptverkehrszeit, sagte er: Wenn man nicht schnell genug ist, bekommt sie immer ein anderer. Der nachträglichen Kadrierung, dem Hervorheben bestimmter Bildelemente, der Typografie der Legenden und Verteilung der Textblöcke in der gedruckten Reportage galt aber seine ganze Aufmerksamkeit. Burris Blick war der eines Grafikers, der über den Bildrand hinaus auf den visuellen Gesamteindruck achtete.

Zwischen Dazugehören und Draußenbleiben: Der Künstler schmuggelte sich selbst ins Bild

Das führte zu einer ganz eigenen Auffassung vom Zeugnischarakter der Fotos. Statt ein dem Leben entrissenes Stück Wirklichkeit waren seine Bilder eher eine jeweils durchs Fotografenauge geläuterte und neu komponierte Realitätsspiegelung. Das jedenfalls zeigt die Lausanner Ausstellung sehr anschaulich. Es gibt wohl wenige Fotografen, von denen neben den Fotoabzügen so zahlreiche Zeichenskizzen zur Illustration der Reportagen erhalten sind.

Damit hängt zusammen, dass bei Burri mehr als bei vielen anderen Fotografen klare Stilelemente erkennbar sind. Marc Donnadieu, einer der beiden Lausanner Kuratoren, nennt etwa das Verfahren der Unschärfe im Vordergrund, die das Hauptmotiv oft in den Hintergrund setzt und es durch verschwommene Vordergrundelemente zugleich akzentuiert und relativiert.

Ein anderes Stilmittel ist das, was Donnadieu den "double-plan" nennt: jenes Verfahren, das im selben Bild verschiedene Szenen unterbringt. Das konnte so weit gehen, dass mehrere Bilder vermischt wurden wie bei jener Aufnahme im Frankfurter Hauptbahnhof, die 1962 für Burris Fotoband "Die Deutschen" das Cover abgab. Der Fotograf war zuvor für diverse Reportagen durch die Bundesrepublik und die DDR gereist und versammelte eine Bildauswahl in jenem Buch, das er später als eines seiner persönlichsten bezeichnete. Das Titelfoto zeigt eine hinter einem säulenartigen Vertikalelement in der Frankfurter Bahnhofshalle hervortretende Frau und einen Mann unweit von ihr, der ihr nachblickt. Die beiden Figuren befanden sich ursprünglich aber gar nicht im selben Bild. Die scheinbare Säule war der schwarze Streifen, der auf den Kontaktabzügen das Bild mit der Frau vom Folgebild mit dem Mann trennt. Durch eine neue Kadrierung hat Burri einen zuvor nicht existierenden Zusammenhang geschaffen. Mit seinem Verständnis von fotografischer Objektivität nahm er sich manche Freiheit heraus.

Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch die Neigung dieses Weltbummlers mit Trenchcoat und Hut, sich selbst in Szene zu setzen. Das geschah nicht aus künstlerischer Eitelkeit, sondern aus einer ganz eigenen Auffassung vom fotografischen Tun zwischen Hinschauen, Abknipsen und Deuten. Vor allem ab den Achtzigerjahren griff Burri bei seinen Reportagen gern auf frühere Arbeiten zurück und stellte sie in den jeweils neuen Aktualitätszusammenhang, wenn er etwa bei den Studentenprotesten 1989 auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens alte China-Fotos verwendete oder in Zentralamerika mit seinen früheren Che-Porträts posierte.

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(Foto: René Burri / Magnum Photos / VG Bild-Kunst, Bonn 2020)

Für das Cover des Katalogs zur Ausstellung "René Burri One World", die 1984 im Kunsthaus Zürich zu sehen war, fotografierte er eine ältere Aufnahme von der Schaufensterauslage eines mexikanischen Passbildfotografen neu ab und hielt dabei sein eigenes Passbild neben die kleinformatigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Unbekannten. Indem der Fotograf sich selbst ins Bild schmuggelt, deutet er seine Ambivalenz zwischen Dazugehören und Draußenbleiben an.

Dieses Spiel kommt auch in den Übermalungen und Fotomontagen zum Ausdruck, mit denen Burri in den späteren Jahren seine Schwarz-Weiß-Bilder überarbeitete. Als Fotograf habe er ein Doppelleben geführt, eines in Schwarz-Weiß und ein anderes in Farbe, erklärte er in einem Interview. Doch die eine Seite wusste stets sehr genau, was die andere wollte. Den hintersinnigen Kompositionen und schrägen Perspektiven, mit denen René Burri in seinen Bildern die Faszination für Großstadt, Technik, Raumfahrt, Massenkonsum seiner Epoche hinterfragte, lieferten Malstift und Pinsel immerfort neuen Zündstoff.

René Burri. Explosion des Sehens. Musée de l'Elysée, Lausanne. Bis 3. Mai. Der Katalog kostet 45 Euro.

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