Süddeutsche Zeitung

Renaissance-Musik:Laut und dreckig

Was heißt "historisch" aufführen? Bei dem Ensemble "La Tempête" hört sich die "Marienvesper" von Claudio Monteverdi endlich so an, wie man sich das oft heimlich vorgestellt hat.

Von Helmut Mauró

Ist die Musik der letzten tausend Jahre obsolet oder bestenfalls Museumskultur? Funktionieren Kunstentwicklungen etwa wie technische Neuerungen: das bessere Neue ersetzt das Alte? Oder ist es ein additiver Prozess, bei dem das Neue das Alte ergänzt? Unterschiedliche Epochen haben diese Frage unterschiedlich beantwortet, und die aktuellste Antwort ist wohl die, dass jeder für sich entscheiden kann, ob er kulturellen Reichtum bevorzugt, die Anhäufung von Meisterwerken aus allen Epochen einschließlich der Gegenwart, oder ob er sich in seinem Kunst- und Unterhaltungsinteresse allein auf die Gegenwart beschränken will. In der Musik scheint dies besonders kompliziert zu sein, weil zum Werk auch die Aufführung gehört, und die scheint zwangsläufig an die Tagesaktualität gebunden. Aber auch dies ist nicht ganz richtig. Das historische Bewusstsein hat ja, nachdem es zunächst die Komponisten erfasste, im 20. Jahrhundert auch auf die Ausführenden übergegriffen.

Seit mehreren Generationen übt man sich - auf Haupt- und Nebenwegen - in Originalklang, werkgerechter Ästhetik. Es gibt also nicht mehr nur eine lineare Entwicklung, sondern eine vielfältige Aufführungstradition der großen Werke. Zumal, wenn diese erst in späteren Jahrhunderten wieder ausgegraben wurden. Wie dies zum Beispiel in den 1950er Jahren einem der zentralen Werke des Komponisten Claudio Monteverdi widerfuhr, nämlich seiner Marienvesper, der Vespro della Beata Vergine da concerto composta sopra canti firmi. Dabei enthält der Titel schon entscheidende Hinweise: die Musik zur Vesper, also zum Abendgebet der Mönche, ist ein Konzertieren oder gesanglich-melodisches Variieren über einem cantus firmus, einer immer gleichen Melodie.

Historische Aufführungspraxis, das heißt gerade nicht, dass alte Musik akademisch klingen muss

Monteverdi verbindet hier also bereits Vergangenheit und Zukunft, nämlich die mittelalterliche Cantus-Firmus-Praxis und das noch ganz junge, zukunftsweisende freiere Konzertieren - ein epochaler Schritt von der Renaissance zum Barock. Später wird dieses Werk geradezu exemplarisch die Verbindung und den Konflikt von Entstehungsgeschichte und aktueller Aufführungsästhetik verkörpern. Als Claudio Monteverdi im Jahre 1610 einen Druck mit einer Messe und einem Vesper-Gottesdienst veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, dass er damit mehr als 400 Jahre später einen ähnlich revolutionäre Umwälzung in Gang setzen würde, wie er sie mit seinem Werk selbst erlebt hat. Während es um 1600 darum ging, den altehrwürdigen, längst kanonisch erstarrten Kompositionsstil der Vokalpolyphonie - deren Kunstfertigkeit und unmittelbare Wirkung allerdings noch heute erstaunt und begeistert - durch eine emotionalere Musik abzulösen, die individuelle Empfindungen in den Vordergrund rückt, so geht es heute darum, wie man die damals neue, heute uralte, Musik wiederum ihrer grauen Sprödigkeit entkleidet und quasi fleischlich werden lässt.

Eigentlich ging es in der gesamten Musikgeschichte um nichts anderes, als große Kunst in großer Lebendigkeit aufleben zu lassen,auf dass sie die Menschen mitreiße, verführe, überrede, zu höherer Erkenntnis verhelfe - und ihr Bewusstsein sprenge. Für manche mag dies schon der Werktitel geleistet haben: Sanctissimae Virgini Missa senis vocibus ad ecclesiarum choros, ac Vespere pluribus decantandae cum nonnullis sacris concentibus ad Sacella sive Principum Cubicula accommodata. So steht es auf dem Titelblatt der Generalbassstimme. Also eine "Messe der Heiligsten Jungfrau zu sechs Stimmen für Kirchenchöre, also Knabenchor, und Vesper für mehrere Stimmen mit einigen geistlichen Gesängen für Kapellen oder Fürstengemächer geeignet". Und so akademisch klingen heutige Aufführungen oft auch.

Welch ein Irrtum, möchte man rufen, wenn man die jüngste Einspielung dieses Werkes mit dem französischen Ensemble "La Tempête" hört. Da tobt nicht nur "Der Sturm" über Wipfel und Gipfel der Musikgeschichte, da braust ein Orkan, der an ihren ästhetischen Grundfesten rüttelt. Der Organist und Dirigent Simon-Pierre Bestion, der das Ensemble 2015 gründete, sucht sich Musiker mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, sowohl künstlerisch als auch geografisch. Sie müssen vor allem eines haben: einen eigenen Kopf, einen starken Charakter. Den brauchen sie auch, denn, um es ein bisschen pathetisch zu sagen: Nichts ist mehr, wie es war. Mühsam erarbeitete Originalklang-Versuche werden über den Haufen geworfen, die Musik der Renaissance völlig neu gedacht.

Die Wiedergeburt von "Denkmälern der Tonkunst" kann sehr bewegend sein

Auch in der Musik gibt es den vielfältig zugeschriebenen Satz: Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts. In diesem Fall müsste man aber noch kleinlicher und zeitlicher werden und sagen: Wer heute nur etwas von Renaissance-Musik versteht, hat auch davon keine Ahnung. Wirklich Musikinteressierte widmen sich allen möglichen Stilen und Epochen, einschließlich moderner Popmusik, Komponisten und Ausführenden, Kompositions- und Besetzungsfragen, Aufführungsbedingungen, akustischen Feinheiten. Vor allem aber: Sie vergessen über den schier unermesslichen, tausendjährigen Menschheitsschatz hochkultureller Kunstmusik nicht den volksmusikalischen Humus, auf dem von den aufgezeichneten gregorianischen Anfängen bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein große Musik gewachsen ist.

Dabei geht es nicht unbedingt um direkte Zitate, wie man sie in den Werken der Wiener Klassik findet, oder um die hochkomplexen, die ganze Musikgeschichte umarmenden Anstrengungen von Johannes Brahms mit seinen Variationszyklen über Themen von Händel und Haydn, oder die noch gezielteren historistischen Strategien von Richard Strauss. Wichtiger und spannender geworden ist inzwischen der Aufführungs-Historismus, bei dem der eigentliche kreative Akt, nämlich das Komponieren, durch neue Sichtweisen auf das Alte unterlaufen wird. Ein bisschen wie im Jazz. Die Art der Aufführung ist nun beinahe so wichtig wie das Komponierte selbst. Das momentane Verständnis der Partitur ist ebenso wichtig wie diese. So entsteht eine plausiblere Verbindung zwischen Komponist und Hörer als in der dogmatischen Originalklangphilologie, und manchmal entdeckt man dabei sogar Authentisches, wie dies "La Tempête" gelungen ist.

Im Grunde begann das alles mit der Veröffentlichung verschütteter Werke in Gesamtausgaben des 19. Jahrhunderts. Das waren zunächst keine praktischen Editionen für den Spielgebrauch, sondern, und so hießen sie auch: Denkmäler der Tonkunst. Gleichzeitig gab es aber auch ganz pragmatische Ansätze zur Erforschung und Wiederaneignung des Alten. Man suchte nach bildlichen Vorlagen und textlichen Beschreibungen der alten Instrumente, um sie nachzubauen und mit tradierten oder vermuteten Spieltechniken den Zauber längst untergegangener Klangwelten wiederzubeleben. Geschichte war im 19. Jahrhundert Gegenwart geworden, man wartete gespannt auf neue Ausgrabungen, die nicht nur in Ägypten, sondern auch in den großen europäischen Bibliotheken mit Eifer betrieben wurden.

Es blieb aber das Problem, dass man anhand einer bildlichen Darstellung alten Instrumentariums oft nicht auf die exakte Bauweise schließen konnte und erst recht nicht auf die Spielart. Zumal, wenn Maler wenig von Musik verstanden oder andere Darstellungskriterien Vorrang hatten. Manche Instrumente hatten es leichter, wiederbelebt zu werden. Das Cembalo etwa erlebte eine geradezu triumphale Wiedergeburt. Man kann sich das kaum noch vorstellen: umrahmt von den Klängen eines javanischen Gamelan-Orchesters, das vor allem aus kleinteiligen Gong-Klängen besteht, präsentierten die berühmtesten Pariser Klavierbauer Tomasini, Érard und Pleyel auf der Weltausstellung von 1889 je ein nachgebautes barockes Cembalo. Das Publikum war begeistert.

Was die Vokalmusik betrifft, ist die Sache einerseits einfacher - man muss kein Instrument nachbauen -, andererseits kann man auch beim Singen nie ganz sicher sein, wie dies vor 400 Jahren wirklich klang. Geht es also um historische Korrektheit oder die mitreißendste Aufführung? Kann man sich dabei über bisherige Erkenntnisse hinwegsetzen? Kann man.

Das Wort darf nicht nur gesungen werden, es muss Fleisch werden

Simon-Pierre Bestion setzt auf die volksmusikalische Praxis aus Süditalien, auf das lautstarke, kraftvolle, schier hemmungslose Herausschleudern der Töne. Zudem ergänzt er die originale Partitur um solcherlei ausschmückende Gesänge, gewichtet chorische und solistische Anteile neu - das sind zum Teil gravierende Eingriffe. Bestion geht von allen Neuerern am Weitesten. Weiter als der Belgier Björn Schmelzer mit seinem A-Capella-Ensemble "Graindelavoix", der am gleichen Strang zieht, wie man in den eindrucksvollen Aufnahmen mit Werken von Cipriano de Rore oder Orazio Vecchi hören kann: weg von der modernen kirchenmusikalischen Sprödigkeit, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts zur strengen Regel geworden ist, hin zu einer farbigen, lauten, ästhetisch riskanten, gleichwohl hochprofessionellen Aufführungspraxis.

Auch die exotischen alten Instrumente spielen eine Rolle. Monteverdis Marienvesper gehört zum freudig-prächtigsten, das je komponiert wurde. Das liegt nicht nur an seiner neuen Art des freieren, virtuoseren Umgangs mit melodischen Floskeln und Ausschmückungen oder einer besonders üppigen Instrumentalbegleitung. Da war später viel mehr Lametta. Es ist vielmehr das genialische Konzept, wie Monteverdi Altes neu deutet und daraus etwas Zukunftsträchtiges, Visionäres, Vielversprechendes schafft. Diese Klänge gehen durch alle Schichten der spontanen Verweigerung, des Erschreckens, Verwunderns, und rütteln an der Basis des Bewusstseins. Seit seiner Wiederentdeckung schaut die Fachwelt gebannt auf dieses Stück.

Den konservativen Musikologen, die behaupten, Monteverdis "Marienvesper" sei nur eine lose Sammlung unterschiedlicher Stücke, stellen sich die begeisterten in den Weg. Monteverdi habe hier etwas völlig Neues schaffen wollen, sagen sie, und haben sicherlich recht. Musiker wie Björn Schmelzer und Simon-Pierre Bestion setzen noch eins drauf: So ein Stück muss auch heute neu, überraschend sein und den Hörer im Innersten ergreifen. Und dazu, daran führt kein Weg vorbei, muss man auch als praktizierender Apologet der historischer Korrektheit raus aus protestantischer Verklemmtheit und Sauberkeitswahn. Das Wort darf nicht nur gesungen werden, es muss Fleisch werden. Steht doch schon in der Bibel. Der neue Renaissance-Gesang? Könnte so geklungen haben: Als käme sie mit den Menschen direkt von der Straße in die heiligen Kirchenräume. Bunt, laut, manchmal schmutzig, am Ende aber der Welt ein bisschen enthoben.

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Quelle:
SZ vom 24.12.2019
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