Süddeutsche Zeitung

Religion in Deutschland:Das Palaver-Prinzip

"Wir beten. Wir laden durch. Innerlich": Nach seinem Theaterstück "Urban Prayers" setzt Björn Bicker die Erforschung der religiösen Innenwelten Deutschlands in Buchform fort.

Von Philipp Bovermann

Den Sprengstoff formuliert Björn Bicker erst im Nachwort. Gemessen an den Mitgliederzahlen der großen Volkskirchen leben, schreibt er, mittlerweile in München mehr Nicht-Christen als Christen. In religiöser Hinsicht ist die christlich-abendländische Mehrheitsgesellschaft einem Nebeneinander von Parallelgesellschaften gewichen, auch anderswo. Aus der Perspektive, die in diesem Zusammenhang gern von deren "Aufeinanderprallen" oder von "Gemengelagen" redet, ist das in der Tat Zündstoff. Deshalb lässt Bicker in "Was glaubt ihr denn - Urban Prayers" zunächst die miteinander sprechen, die das angeblich nicht können.

"Wir atmen./ Wir kämpfen./ Wir kämpfen für Toleranz./ Wir nicht./ Wir beten./ Wir laden durch./ Innerlich./ Ganz konkret./ Wir beten einfach./ Unser ganzes Leben ist ein Gebet./ Unseres nicht." Es spricht der "Chor der Gläubigen". 2013 bildete er den dramaturgischen Kern des Theaterstücks "Urban Prayers", das Bicker, unter der Regie des damaligen Intendanten Johan Simons, an den Münchner Kammerspielen aufführte. Gespielt wurde es nicht nur im Theaterhaus, sondern auch in den Andachtsräumen von sieben Münchner Religionsgemeinschaften. Mit "Was glaubt ihr denn" wird dieser Chor-Text nun in erweiterter Form publiziert.

Im Nachwort "Wir sind viele" beschreibt Bicker diese Reihe von Gastspielen durch das spirituelle Ausland vor der eigenen Haustür als Ergebnis langer, aber erkenntnisreicher Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen religiösen Intimsphären. Der "Chor" lässt sich vor diesem Hintergrund als Kondensat oder als sprechende Schnittstelle all dieser Unterredungen mit und zwischen den Gläubigen verstehen. Er dokumentiert, zusammen mit einer Reihe von Fotografien, Bickers Recherchereise durch das vielfältige religiöse Leben Münchens.

Wer jeweils spricht, wann und wo gesprochen wird, bleibt offen. In "Urban Prayers" trugen fünf Schauspieler als menschliche Relais den Text vor, entkoppelt von ihrer körperlichen Einheit auf der Bühne, auch die Wechsel der Sprecherpositionen wurden nicht kenntlich gemacht. So erzeugten sie nur durch Reden einen virtuellen Raum, in dem alles frei durcheinander- schwebt. In "Was glaubt ihr denn" stehen die einzelnen Sätze und Satzpartikel nun einfach zeilenweise untereinander.

Das Gebet der Ökumene kommt ohne Weihrauch und ohne Suren-Rezitationen aus

Es geht um Essensverbote und um Kindererziehung, um Steuern, die Zahl Sieben, München, "City of God", darum, dass der Mensch kein Ding ist, ob man sich zumindest darauf einigen könne, immer wieder die Frage: Was glaubt ihr denn? Der Glaube kennt hier viele Gesichter, auch das des Unglaubens. Es bleibt ein ökumenisches Gebet - oder vielmehr das Gebet der Ökumene - ohne Weihrauch, ohne Suren-Rezitationen. Ein Bekenntnis ohne Bekennende. Es bleibt, im Buch, die Sprache.

Das derzeit vielerorts vorangetriebene Projekt, den geschützten Raum des Theaters zu verlassen, wird hier mit der Druckerpresse weiterbetrieben. Seinen emotionalen Höhepunkt fand das zugrunde liegende Projekt beim gemeinsamen Fastenbrechen in den Kammerspielen. Das Theater bildete die letzte "geweihte" Spielstätte, es war gerade Ramadan. Die Tonabteilung des Hauses übertrug den Gebetsruf per Lautsprecher in die Nachbarschaft. Bei dieser finalen Veranstaltung traten vierzig Gläubige aller Religionen in einem neunstündigen Redemarathon auf. Das Pendant im Buch liefern kurze, konventionelle Erzählpassagen, in denen sich ballonartig konsistente Situationen aus dem Chor herausbilden. Darin dürfen einige der zuvor anonymen Stimmen ihre Geschichten breiter entwickeln.

Dies allerdings über die Vermittlung von fünf säkularen Erzählerfiguren, die auf gläubige Mitmenschen treffen. Dadurch wird eine schwierige Entscheidung des Autors gegen eine andere in Stellung gebracht: Einerseits lässt der Chor der Gläubigen keine Außenperspektive auf ihn zu - auch dem säkularen Zweifel wird der Status einer Religion bescheinigt. Auf der rhetorischen Ebene vollzieht sich das durch die Aushöhlung des Unterschieds zwischen "glauben" im Sinne von "meinen", "vermuten" und religiösem "glauben", schon in der ersten Zeile: "Was glaubt ihr denn./ Wer wir sind." Andererseits ist es auch nicht unproblematischer, wenn in den Erzählpassagen anstatt der Identität von Zweifel und Religion umgekehrt eine dialogische Beziehung zwischen den säkularen Erzählern und den Figuren gläubiger Menschen etabliert wird.

Mit geheimnisvollem Lächeln kämpft der afrikanische Pastor gegen westliche Verwahrlosung

In allen fünf Erzählern spricht immer dieselbe Stimme - und immer drückt sich diese Dialogizität als eine Sehnsucht nach religiöser Innigkeit aus. Die Gläubigen hingegen bekommen eine Art Welpen-Bonus. Da ist die "kleine" Schwester, die beim Schimpfen über die herzlose westliche Gesellschaft plötzlich besonders "schön" wird. Der turbantragende Sikh, der ein weinendes Mädchen durch seine aus verborgener Quelle ihm zufließende Kraft beruhigen kann. Der hochintelligente afrikanische Pastor, der mit geheimnisvollem Lächeln in den Kampf gegen die westliche emotionale Verwahrlosung zieht.

Da ist es wieder, "dieses verdammte Kolonialismus-Ding", von dem im Buch immer wieder die Rede ist, wenn der gläubige Fremde erkoren wird zum Vitalisierungspool gegen unsere "verschimmelte Demokratie", in den Worten des besagten Pastors. Dieser erzählt vom "Palaver-Prinzip", einer vorkolonialen afrikanischen Sozialtechnik, die man als Bickers implizite Poetologie lesen kann: Wenn es ein Problem gibt, wird geredet, "bis es eine Lösung gibt, mit der alle leben können. Tagelang, wenn es sein muss" - das Prinzip radikaler Basisdemokratie als Korrektiv zur instrumentellen Vernunft des Kapitalismus, der immerhin genau das ins Werk setzt, was die Religionen immer schon versprochen haben: Alles wird eins.

Jürgen Habermas beschreibt in "Nachmetaphysisches Denken II", wie auch die einheimischen Konfessionen durch die Auseinandersetzung mit immigrierenden Religionsgemeinschaften belebt werden. Bicker zitiert die Stelle und liefert mit seinem Buch, wie zum Exempel, die romanhaft-subjektive Innenseite zur Sprache des Kollektivs im Theater, den auktorialen Blick auf diese Gläubigen anstatt ihrer selbst in Fleisch und Blut.

Beim "Palaver-Prinzip" geht es nicht um Sprache, um Literatur, sondern darum, miteinander zu sprechen. "Was glaubt ihr denn" hingegen öffnet, eher unfreiwillig, den Blick auf die Grenze des Palavers: Religionen sind nicht nur Ausdruck kultureller Lebensformen, die sich restlos in einem vielstimmigen Chor vereinen lassen, sondern auch Verheißung unhinterfragbarer Innerlichkeitserfahrungen, über die sich nur schweigen lässt. Sind beide voneinander ablösbar? Und ist das überhaupt ein Problem?

Björn Bicker: Was glaubt ihr denn - Urban Prayers. Verlag Antje Kunstmann, München 2016. 272 Seiten, 24,95 Euro. E-Book: 21,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 20.05.2016
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