Reisereportagen:So fremd wie ein anderer Stern

Joseph Roth

Von Dörfern berührt, von Fliegen geplagt: der Reportagereisende Joseph Roth.

(Foto: AP)

Kiew, Moskau, Odessa: Die Reportagen, die Joseph Roth in den Zwanzigerjahren über Osteuropa schrieb, liest man gerade heute wieder mit Bereicherung. Vor allem, weil sie ehrlich sind.

Von Tim Neshitov

Es sei eine große Vermessenheit, Städte beschreiben zu wollen, schrieb Joseph Roth, als er 1924 für die Frankfurter Zeitung Lemberg schilderte. "Städte haben viele Gesichter, viele Launen, tausend Richtungen, bunte Ziele, düstere Geheimnisse, heitere Geheimnisse."

Joseph Roth war, neben seinem schriftstellerischen Genie, ein sehr guter Journalist, denn er machte seinen Lesern nichts vor. Man kann, wenn man ehrlich ist, keine Stadt beschreiben. Man kann auch keinen Menschen porträtieren, mit all seinen Geheimnissen. Joseph Roth, geboren im heute ukrainischen Brody nahe Lemberg, bereiste in den Zwanzigerjahren für die Neue Berliner Zeitung und die Frankfurter Zeitung Osteuropa und verfasste dabei Reportagen, die man bis heute mit Bereicherung liest, weil sie nicht nur sprachlich brillant, sondern vor allem ehrlich sind.

Roth sagt nicht: Ich erkläre Ihnen Russland in all seiner sowjetischen, postrevolutionären Wirklichkeit und wie sich diese neue Wirklichkeit auf die Nachbarländer Polen und die Ukraine auswirkt. Roth schreibt zum Beispiel über Lemberg, das zu der Zeit polnisch war: "Es gibt Städte, in denen es nach Sauerkraut riecht. Dagegen hilft kein Barock."

Berührende Dörfer und plagende Fliegen

Über Leningrad, das heutige Sankt Petersburg, das Roth im Winter 1926 besuchte, schreibt er (es geht um den riesigen Platz vor dem Winterpalast): "Menschen, die ihn überqueren, sehen winzig aus, wie verkleidete Streichhölzer. Rings eingeschlossen, nur durch schmale Auswege mit der Stadt verbunden, ist er wie deren Abkehr, eine Form ihrer Entrücktheit. Der Zar war winzig diesem Platz gegenüber, ein kleiner Gefangener. Wie furchtsam wird ein Herrscher, wenn ihn ein Platz, groß, weiß und schweigsam, belagert! Wer nicht groß genug ist zu regieren, wird hier, vor lauter Weite, ein Tyrann."

Nein, man sollte diese Feststellung nicht auf Wladimir Putin beziehen. Putin regiert von Moskau aus, nicht von Sankt Petersburg. Es ist gut, dass Joseph Roth, der seine journalistischen Schreibblockaden hatte, überhaupt auf diese langen Reportagereisen geschickt wurde. Dass ihn ukrainische Dörfer herzlich berührten ("Immer noch liegen sie da wie Kindheitsträume der Welt"), dass ihn Astrachaner Fliegen plagten ("Sie haben keine Nerven, die Fliegen von Astrachan, sie haben die Ruhe großer Säugetiere"), dass ihn Moskauer Journalisten gleichzeitig plagten und berührten. Die Kollegen wollten den Gast aus dem Westen interviewen - mit folgendem Ergebnis: "Sie brachten dem staunenden Russland die Kunde, dass ein Herr Joseph Roth angekommen sei."

Er schwärmte davon, wie "aus Knechten Menschen werden"

Roth hatte sich diese Reisen mit Mühe ausbedingen müssen. Fast zwei Monate nach Ankunft in der Sowjetunion teilte er der Redaktion in Frankfurt mit, er habe noch nichts schreiben können: "Wenn man auf einen anderen Stern käme, könnte es nicht fremder und merkwürdiger sein." Doch dann lieferte er. Es ist eine gute Idee vom Verlag C.H. Beck, eine Auswahl dieser Reportagen jetzt herauszubringen, in einer Zeit, in der sich mal wieder eine Kluft zwischen Ost und West aufgetan hat.

Die Geschichte wiederholt sich, und zwar um so öfter desto öfter man genauer hinguckt. Roth schaut sehr genau hin, ob es um hartnäckige südrussische Fliegen geht oder um geopolitische Zusammenhänge: "Als der Zar noch regierte und keine Ukrainer, sondern nur ,Klein-Russen' kennen wollte, neigten Teile der österreichischen Ukrainer zum Zarentum, zum orthodoxen Glauben und zum Russentum. Heute, da die Sowjets regieren und die ukrainische Nation anerkennen, neigen Teile der polnischen Ukrainer zum Kommunismus."

Solche Beobachtungen lassen den Begriff "Neurussland", der die Existenz der ukrainischen Nation mal wieder abstreitet und derzeit die Moskauer Außenpolitik prägt, als eine freche, selektive Fantasie erscheinen.

Joseph Roth wird manchmal selber frech, auf seine Art. Er stellt sich dann auf den Sockel einer westlichen Zivilisation, die er sonst samt ihrem Firnis durchschaut hat wie wenige seiner Zeitgenossen, und sagt über das ganze ukrainische Volk: "Es ist unwissend, arm, zerschnitten und schön."

Reisereportagen: Joseph Roth: Reisen in die Ukraine und nach Russland. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jan Bürger. Verlag C.H. Beck, München 2015. 14,95 Euro.

Joseph Roth: Reisen in die Ukraine und nach Russland. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jan Bürger. Verlag C.H. Beck, München 2015. 14,95 Euro.

In Russland erlebte Joseph Roth die Zeit der Großen Täuschung, die dem Großen Terror vorausging. Es waren die Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs, zwischen Lenins Tod und Stalins Machtkonsolidierung, in denen vorübergehend kapitalistischer Handel zugelassen war und moderne englische Autobusse fuhren ("leichter und gediegener als die Berliner und Pariser"). Die meisten Gulag-Lager waren noch nicht entstanden, das russische Dorf war noch von Kollektivierung und Hungerpolitik verschont geblieben, Priester und Intellektuelle wurden noch nicht reihenweise an die Wand gestellt.

Roth ließ sich täuschen - und enttäuschen

Roth schwärmte von einem "schönen Schauspiel" auf dem Lande, darüber, "wie aus Knechten Menschen werden". Er behauptete: "In Sowjetrussland wird die Kirche nicht verfolgt." Er sagte Russland sogar eine geistige Entwicklung voraus, die der amerikanischen ähneln würde: "Die frische, ahnungslose, gymnastisch-hygienische rationale Geistigkeit Amerikas - ohne die Hypokrisie der protestantischen Sektiererei: aber dafür mit der Scheuklappenfrömmigkeit des strengen Kommunismus."

Roth ließ sich täuschen. Und er, der durchaus mit der Idee des Kommunismus sympathisiert und mit "Der rote Joseph" unterschrieben hatte, ließ sich auch enttäuschen - von der sowjetischen Geschlechtsmoral, vom sterilen Atheismus, von Zensur in den Zeitungen, von der "frischen, rotbackigen Banalität".

Es ergreife ihn, schrieb er, "ein Heimweh nach unserem Leichtsinn und unserer Verwerflichkeit, eine Sehnsucht nach dem Aroma der Zivilisation, ein süßer Schmerz um unsere wissenschaftlich schon ausgemachte Dekadenz".

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