Reiseessays:Es schüttet Metaphern

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"Der Löwe, die Stadt und das Wasser": Vor über fünfzig Jahren reiste Cees Nooteboom zum ersten Mal nach Venedig. Nun erkundet er noch einmal seine Liebe zu dieser Stadt. Es geht um Schlick und Gräber und sehr oft um das Ich des niederländischen Autors.

Von Thomas Steinfeld

Mehr als fünfzig Jahre ist es her, dass der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom zum ersten Mal in Venedig war. Mindestens so oft hat er, so scheint es, über die Stadt geschrieben. Eine Sammlung dieser Essays und Vignetten, teils schon anderweitig veröffentlicht, teils bislang nicht publiziert, ist nun unter dem Titel "Der Löwe, die Stadt und das Wasser" erschienen. Begleitet werden die Texte von, wie man freundlich sagen müsste: geschmackvoll vertrauten Bildern der Fotografin Simone Sassen, Nootebooms Ehefrau.

Ähnliches wäre auch über die imaginären Zwiegespräche zu sagen, die der Autor mit Petrarca und Palladio hält, mit Hippolyte Taine und Louis Couperus, mit den Gemälden von Carpaccio und Tintoretto. Auch diese Meditationen sind geschmackvoll und vertraut; sie sind gebildet und auf behutsame Weise originell. Warum man sie lesen sollte, da es doch gebildete und dabei erhellendere Literatur zu diesen Werken schon im Übermaß gibt, ist allerdings eine nicht leicht zu beantwortende Frage.

Cees Nooteboom ist kein schlechter Schriftsteller. Gelungen etwa ist die Beschreibung der Sirenen, die ein Hochwasser ankündigen, der mechanische, auf- und niedergehende Gesang, der für eine Weile alles durchdringt, um dann in einer "Stille ohne Stimmen und Schritte" zu enden. Gelungen ist auch die Beschreibung der Karmeliterkirche am Canal Grande, deren Gewölbe, vom jungen Tiepolo ausgemalt, im Ersten Weltkrieg einer Bombe zum Opfer fiel (Venedig war die erste Stadt der Welt, die aus der Luft bombardiert wurde). Es gelingt Cees Nooteboom sogar manche Metapher, zum Beispiel, wenn er das töricht glückselige Gesicht beschreibt, das Menschen aufsetzen, wenn sie vor den Augen anderer Touristen in einer Gondel sitzen und sich durch die Kanäle schaukeln lassen, "als hätten sie dort unten auf dem Wasser die gesamte Stadt wie einen Umhang um sich drapiert".

Aber es hilft nichts: Es gibt zu viele Bildvergleiche in diesen Aufsätzen, und vor allem gibt es zu viele abgenutzte Tropen: die Beschreibung der Stadt als "aberwitziger Traum" und "Vision" über dem Wasser zum Beispiel, oder der Vergleich der Lagune mit einem "lebendigen Organismus", durch den sich die Wasserwege wie "Blutbahnen" ziehen. Durch allzu häufigen Gebrauch ist solchen Vergleichen jeder Überschuss an Fantasie ausgetrieben.

"Schwarz ist der Schlick, der aus den Tiefen der Lagune kommt, Totenwasser aus der Lethe ..."

Dass die Metaphern hier zu einem Problem werden, liegt aber nur zum einen daran, dass sie so zahlreich und gewöhnlich sind wie die Andenkenläden in den Gassen Venedigs. Schwerwiegender ist, dass sich in ihnen ein gestalterisches Prinzip verbirgt. Die vielen Vergleiche dienen dazu, die ästhetische Form zu sprengen. Sie tun es in Richtung der beschriebenen Gegenstände, weil sich alle Dinge in das Schicksal fügen müssen, ihr eigentliches Dasein in einem vom Schriftsteller für sie gefundenen Sprachbild zu gewinnen: So werden Gondeln zu "schlanken schwarzen Vogelbooten". Sie tun es auch in Richtung des lesenden Publikums, dem jede Nachricht doppelt und dreifach präsentiert wird, in immer neuen Verschiebungen des Bildfeldes: "Schwarz ist der Schlick, der aus den Tiefen der Lagune kommt, Totenwasser aus der Lethe, dem Fluss der Vergessenheit." Viele Leser werden den Schriftsteller seiner poetischen Erfindungskraft wegen bewundern. Einige werden solche Passagen indessen für schwarzen Schmalz halten, zu Recht.

Der Schriftsteller verlangt und bedient jene Bewunderung, indem er, von Metaphern beflügelt, eine systematische Entgrenzung der Literatur betreibt. So kommt es, nüchtern betrachtet, zu allerhand lächerlichen Szenen, in denen er zum Beispiel die Dogengräber an den Wänden der Kirche Santi Giovanni e Paolo beschreibt: "Ich habe sie schon in früheren Jahren besucht und mich gefragt, ob ich das auch wollte, bis in alle Ewigkeit auf halber Höhe einer Kirchenmauer schlafen." Die naheliegende Frage, ob denn tatsächlich jemand wissen möchte, ob Cees Nooteboom dort oben begraben sein wolle, mit der phrygischen Mütze auf dem Kopf, verweigert sich dem Verfahren dieser Essays. Denn tatsächlich geht es in ihnen um das Ereignis, das der Schriftsteller selber sein will. Um dieses Ereignisses willen schüttet es Metaphern, und um dieses Ereignisses willen verfasst Cees Nooteboom eine Art Literatur, in der alle Trennungen aufgehoben sind, die zwischen dem Leser und dem Buch ebenso wie die zwischen dem Buch und seinem Gegenstand: Hauptsache, der Autor steht in der Mitte von allem.

"Warum bin ich nun schon zum wer weiß wievielten Mal zurückgekehrt?", fragt der Schriftsteller in der Mitte des Buches, "worin besteht eigentlich die Anziehungskraft der Stadt?" Eine Antwort gibt er nicht. Stattdessen treibt es Cees Nooteboom, der alles gelesen und alles gesehen zu haben scheint, immer weiter, anderen Lektüren und Ansichten Venedigs entgegen, die sich immer wieder als Varianten derselben Drehung um sich selbst entpuppen. Dabei war die Frage doch vernünftig gewesen.

Cees Nooteboom : Venedig. Der Löwe, die Stadt und das Wasser. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 240 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 04.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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