Süddeutsche Zeitung

Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman "Wilderer":Warten auf das Ende

Reinhard Kaiser-Mühlecker ist der große Solitär seiner Generation. Im Roman "Wilderer" perfektioniert er seine karge Ästhetik der Ausweglosigkeit.

Von Christoph Schröder

"Zauk" ist ein österreichischer Dialektausdruck; eine nicht eben freundliche Bezeichnung für eine Frau. Jakob, der Protagonist von Reinhard Kaiser-Mühleckers neuem Roman, verwendet ihn oft. Für seine Hündin Landa, die buchstäblich Blut geleckt und mit dem Wildern begonnen hat. Für seine Ex-Freundin Nina, die vor einigen Jahren erfolglos versucht hat, Jakob eine Vaterschaft anzuhängen und kurz darauf auf Nimmerwiedersehen verschwand. Für Luisa, seine Schwester, die den elterlichen Bauernhof schon lange verlassen hat und nun ein in Jakobs Augen unstetes, also verwerfliches Leben in Hamburg führt.

Und irgendwann, sehr spät in diesem insgesamt erschütternden Buch, ist auch Katja eine "Zauk"; die Frau, zu der Jakob immerhin ein einziges Mal den Satz "Ich liebe Dich" gesagt hat, zu spät, um noch etwas zu retten. Katja, mit der für eine kurze Zeit immerhin Ansätze eines gelingenden Lebens möglich waren. Tiefschwarz ist "Wilderer", ein Bericht aus einer devastierten Welt, die aus der Perspektive eines Menschen betrachtet wird, der sämtliche Anschlüsse verloren zu haben scheint. Oder, noch schlimmer, sie niemals gehabt hat.

"Wilderer" ist die etwa fünf Jahre später einsetzende Fortschreibung von Reinhard Kaiser-Mühleckers 2016 erschienenen Roman "Fremde Seele, dunkler Wald", der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand. Kaiser-Mühlecker, der in Eberstalzell in Oberösterreich aufgewachsen ist und dort den landwirtschaftlichen Betrieb seiner Familie führt, setzt in seinen mittlerweile acht Romanen ein Mosaik von Geschichten aus dieser Gegend zusammen; aus einer Landschaft, die nicht als antiurbane Idylle gezeichnet wird.

Vielmehr ist das Dorf, in dem Jakob mit Eltern und Großmutter auf einem zu Beginn des Romans heruntergekommenen Bauernhof lebt, Bestandteil einer Kulturlandschaft im Umbruch. Über dem Hof rauscht und dröhnt die Autobahn auf einer 30 Meter hohen Brücke. Der Bürgermeister bezeichnet sie als Wahrzeichen des Dorfs.

In der Eröffnungsszene beobachten wir Jakob beim Aufwachen um vier Uhr morgens. In der Schublade seines Nachttisches liegt die Pistole seines Großvaters, geladen mit einer einzigen Kugel. In regelmäßigen Abständen dreht Jakob die Trommel, setzt sich die Waffe an den Kopf und drückt ab. Noch ist jedes Mal das langweilige Klackgeräusch ertönt. Eigentlich unmöglich, denkt sich Jakob und steht auf, um an die Arbeit zu gehen.

Es wird, so heißt es einmal, gelebt, weil der Tod noch nicht da ist. Was ist das für ein Mensch, den Reinhard Kaiser-Mühlecker in all seiner Undurchdringlichkeit und mit all seinen Ambivalenzen nach und nach auffächert? Vor allem einer, der nie eine Alternative hatte. Der Vater ist ein Versager, der das Land der Familie Stück für Stück verschachert hat für unsinnige Projekte. Der ältere Bruder Alexander lebt nach seiner Militärzeit in Wien. Die bösartige Großmutter sitzt im Rollstuhl im Obergeschoss, hat ein Auge auf alle und wartet auf das Ende.

Die scheinbar simple Tonlage stellt psychologische Komplexität her

An Jakob ist alles hängen geblieben, und er fügt sich naturgemäß in diese Verantwortung. In ihm lodert eine Wut. Manchmal wünscht er sich einen Krieg herbei, weil er Blut sehen will. Es ist allzu einfach, einen solchen Charakter mit wertenden Begriffen zu umstellen, "toxisch" beispielsweise oder gar "psychopathisch". Doch die große Kunst dieses Romans ist es unter anderem, dass Kaiser-Mühlecker alle seine Figuren zwar mit Leben, mit Erfahrungen, mit Sehnsüchten anreichert und sie trotzdem undurchdringlich, unberechenbar bleiben.

Die scheinbar so simple, geradezu karge Tonlage, in der Kaiser-Mühlecker erzählt, stellt in ihrer Offenheit psychologische Komplexität her. Der Blick wird auf eine bestimmte Weltsicht hin gerichtet, und es kostet während der Lektüre oftmals Mühe, nicht in dieser düster grundierten Bewusstseinslandschaft unterzugehen. Wenn das Wort "Identität" auch die Grenzen dessen markiert, wer oder was wozu gehört und wem was gehört, dann ist "Wilderer" der Roman einer in ihrer Ausweglosigkeit gefangenen Identität, und das Leitmotiv des Wilderns zieht sich in unterschiedlichen Varianten durch das Buch, das auch als ein gescheiterter Entwicklungsroman gelesen werden könnte.

Eines Tages ist Katja im Dorf, eine Künstlerin aus der Salzburger Gegend, die ein dreimonatiges Stipendium erhalten hat. Jakob und Katja kennen sich bereits - von Tinder. Und Katja nimmt Jakobs Leben in die Hand, als sei es das Selbstverständlichste. Stellt Pläne auf und den Hof von Jakobs Familie auf Biolandwirtschaft um, mit Erfolg. Die beiden heiraten und bekommen einen gemeinsamen Sohn. Rein rational könnte all das zu einem glücklichen Ende kommen, doch untergründig spürt man, dass es bitter werden wird und dass Jakob keiner ist, mit dem etwas gut werden kann.

Er sehe es als seine Pflicht an, die Welt, die er kenne, erfahrbar zu machen, sagt der Autor

Wer kommt nach wem? Das ist eine der entscheidenden Fragen, die in "Wilderer" immer wieder gestellt wird. Der Vater, "ein Schlappschwanz", wie Luisa es sagt. So will Jakob nicht sein, aber wie sonst? Was will eine wie Katja von ihm? Der Gedanke, sie könnte auch nur in sein Revier eingedrungen sein, um "ein bisschen zu wildern in diesem fremden Leben, damit sie später sagen könnte: So einen habe ich auch mal gehabt", kommt ihm erst, als alles zu spät ist und Kaiser-Mühlecker den Roman am Ende zu einer Kette von Tragödien verdichtet, an denen Jakob in den vergangenen Jahren beteiligt war. Erst dann erschließt sich das ganze Ausmaß des Unheils.

Ob, das fragt sich Jakob, das auch an einem anderen Ort geschehen wäre, "dass diese Tür in ihm zufiel und er den Ausgang nicht mehr fand, er immer nur - suchend, suchend - entlangstrich an einer glatten, fugenlosen Mauer." Was Reinhard Kaiser-Mühlecker in "Wilderer" fortschreibt, ist das Panorama eines Niedergangs, sei es in ökologischer, sei es in moralischer Hinsicht. Doch ist dieser noch nicht einmal vierzigjährige Autor kein Untergangshuber; keiner, der die Reize des Zerfalls voyeuristisch abschöpft. Er sehe es, so sagt es Kaiser-Mühlecker, als seine Verpflichtung an, die Welt, die er kenne, darzustellen, erfahrbar zu machen.

Realismus also, eingebettet in ein ästhetisches Konzept, das auf Kargheit wie auf Klarheit basiert. Kaiser-Mühleckers Bücher zu lesen fühlt sich an, als würde man auf eine zu fest eingespannte Glasscheibe starren, auf das Knistern und Knacken hören und doch wissen, dass der Autor uns nicht die Last abnimmt, den erlösenden Knall herbeizuführen. Das ist menschlich erschreckend und literarisch bestechend.

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