Reglementierung des Alltags:Die neurotische Gesellschaft

Hausmeister, Gesundheitsapostel und Weltverbesserer wollen uns in die Mangel nehmen. Bürger, wehrt euch gegen Rauchverbote, Sexratgeber und Ernährungshinweise!

Hilmar Klute

Kürzlich war der gesellschaftliche Druck wieder so groß, dass ich einem Raucherclub beigetreten bin. Es handelt sich um eine kleine Kneipe am Münchner Viktualienmarkt mit schöner dunkler Holzvertäfelung, einem König-Ludwig-Porträt und einer leicht verblassten Aufnahme des Alpenpanoramas an der Wand.

Der Beitrag kostete zwei Euro, das ist ja nix, und jetzt steht mein Name zwischen lauter Rudis und Günters in einem grauen Buch, das so dick und vollgeschrieben ist wie "Der Mann ohne Eigenschaften". Wir saßen dann eine Stunde lang zu zweit an einem Tisch mit großem Aschenbecher, konzentrierten uns auf das musikalische Potpourri und bereits nach zwanzig Minuten fanden wir, dass der Volksliedtitel "Ein Stern, der deinen Namen trägt" zu Recht diesen immensen Erfolg genießt.

Das neue Soziotop hatte uns schneller aufgesogen als eine Raucherlippe eine filterlose Camel. Vor uns lagen die Mitgliederausweise, die Wirtin hat sie liebevoll in Klarsichthüllen geschoben, an der Theke saßen Männer in Qualm und Schweigen. In dieser Stunde bereute ich zum ersten Mal, dass ich vor sieben Jahren aufgehört habe zu rauchen, denn ohne Zigarette war meine neue Mitgliedschaft im Raucherclub nur halb so schön.

Ja, ich habe aufgehört, und viele meiner Freunde rauchen eben weiter. Soll ich jedes Mal alleine am Tisch sitzen bleiben, wenn sie Bic-Feuerzeug, Benson und Hedges schnappen und vor die Tür rennen? Ich bleibe jedes Mal zurück und mit mir das Misstrauen: Raucher bilden jetzt vor den Eingängen der Kneipen und Bars Parallelgesellschaften, da kommst du als Asket nicht rein. Sie machen sich lustig über dich und beim Lachen stoßen sie Rauchschwaden aus, als säße der Teufel in ihren Nasen.

Der Raucherclub ist die einzige Sozialstation für jene Nichtraucher, die den Kontakt zu rauchenden Freunden nicht abbrechen wollen. Durch das Nichtraucherschutzgesetz habe ich wieder ein bisschen Angst um meine Gesundheit bekommen, weil ich mich nur noch in verquarzten Räumen aufhalte. Jeden Abend Geschlossene Gesellschaft mitten in der Bundesrepublik - was ist bitte schiefgelaufen?

Angezeigt vom Nichtrauchermissionar

Es muss ungefähr zu dem Zeitpunkt angefangen haben, als die Gesundheitsreform scheiterte. Sie war an dem Üblichen gescheitert, also Hickhack, Herzensträgheit und Lobbyismus, nicht der Rede wert eigentlich. Die Politik kam deshalb auf den Gedanken, dass es in diesem Land zu viele ungesunde Kulturtechniken gibt: Rauchen, Essen, Trinken und künstlich konservierte Jugendlichkeit.

Die Raucher waren als Erste dran, das war keine große Überraschung. Von New York bis Los Angeles werden Raucher schon seit Jahren mit Flammenwerfern beschossen, sobald sie das Zellophan von der Lucky-Strike-Packung reißen. Man hatte sich nur gewundert, dass die Raucher hierzulande so kampflos aus der Öffentlichkeit verschwanden wie Silberfische nach einer Kammerjägerattacke.

Nur Helmut Schmidt hatte am Neujahrstag im Winterhuder Fährhaus den Lackmustest gemacht. Er zündete zuerst seiner Frau Loki, dann sich selbst eine Mentholzigarette an, und drei Wochen später zeigte ihn ein übergeschnappter Nichtrauchermissionar namens Horst Keiser bei der Staatsanwaltschaft an - wegen versuchter Körperverletzung.

Natürlich hatte ich in meinem subversiven Raucherclub kurz überlegt, ob ich nicht Horst Keiser wegen Körperverletzung anzeigen sollte, weil ich vor Wut Bauchschmerzen bekommen habe, als ich sein kleines böses Rechthabergesicht im Internet sah, und Bauchschmerzen können zu chronischer Gastritis führen - in dem Fall hätte Horst Keiser zahlen müssen!

Türsteher einer geschlossenen Gesellschaft

Aber das wäre nutzloses Eifern gewesen, denn die Stunde der Horst Keisers hat längst geschlagen - die Stunde der Weltverbesserer, der Ermahner, der ungefragten Ratgeber, Hausmeister und Sektengründer, kurz: der Türsteher einer geschlossenen Gesellschaft.

Eine ganze Weile waren wir alle so stolz darauf, dass wir in einer Zeit leben, in der es kaum noch Tabus gibt. Gut, manchmal kam ein niedlicher Theaterfrechdachs oder ein französischer Schriftsteller angerannt und behauptete, er habe eines der letzten Tabus gebrochen. Dann gähnten meistens alle, weil das Tabu ja schon längst gebrochen und ausrangiert in der Asservatenkammer der postmodernen Gesellschaft herumgammelte.

Aber dass sich in einem Gemeinwesen tabutechnisch zunächst lange Zeit nichts tut, dann aber dafür mit Schmackes, hat der Philosoph Karl Raimund Popper in "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" beschrieben, und Popper findet eben auch, "dass die verhältnismäßig seltenen Änderungen den Charakter religiöser Bekehrungen und Umwälzungen haben oder dass sie in der Einführung neuer magischer Tabus bestehen. Sie beruhen nicht auf einem rationalen Versuch, die sozialen Bedingungen zu verbessern", schreibt Popper, nein, stattdessen "regeln und beherrschen die Tabus in starrer Weise alle Aspekte des Lebens."

Lesen Sie auf der nächsten Seite von der Reglementierung des Sexuallebens, des Alterns und von ungewaschenen Katzen.

Die neurotische Gesellschaft

Das Tabu Rauchen können wir jetzt ruhig abhaken und gegebenenfalls nochmals aufgreifen, sobald sich der erste bayerische Dorfpfarrer weigert, einen verstorbenen Raucher in geweihter Erde zu bestatten. Aber bis dahin kann es sein, dass ich mir eine Karte für den ersten Münchner Fettleibigkeitsverein ausstellen lasse, weil ich gerne weitere leckere ungesunde Sachen essen möchte. Das ist bald auch verboten, denn die Deutschen sind zu dick und können im Durchschnitt eine nur mangelhafte Verdauung vorweisen.

Fettgehalt statt Alpenlandschaft

Deshalb hat die Bundesregierung einen Fünf-Punkte-Plan gegen die Fettleibigkeit vorgelegt, so wie früher preußische Generäle Schlachtpläne zur Vertreibung der Österreicher. Horst Seehofer rückte dutschkehaft mit dem "Aktionsplan Ernährung" raus. Bald wird man in Gaststätten nichts mehr essen dürfen. Mag sein, dass es in einer Übergangsfrist in manchen Wirtshäusern noch Fettecken gibt, in denen Unbelehrbare hinter einem Sichtschutz Entenbrust verschlingen. Gern gesehen wird es aber nicht.

Wenn man vor zwei Jahren noch im Supermarkt an die Kühltheke kam, war auf dem Joghurtbecher eine Alpenlandschaft zu sehen. Heute steht auf blauem oder grünem Grund ein großes weißes 0,1%. Das bedeutet, der Joghurt ist flüssig, aber weitgehend ungefährlich, wenn auch mit einem Restrisiko von nullkommaeins Prozent Fett behaftet.

Warum machen wir das alles mit? Warum lassen wir uns alles verbieten? Warum lassen wir uns erzählen, dass wir früher sterben, nur weil unser Body Mass Index über 25 liegt? Wie war eigentlich der Body Mass Index von Winston Churchill - war der nicht viel zu hoch? Und der von Konrad Adenauer nicht viel zu niedrig? Beide sind neunzig geworden. Warum glauben wir, dass es gesund ist, kiloweise Obst und Gemüse zu essen, obwohl die Zähne von Fruchtsäuren zersetzt werden und Mangelernährung droht?

Ständige Ratschläge sind die Hölle

Wissen wir nicht mehr, dass wir ein Recht darauf haben, dick zu sein? Ein Recht, ungesund zu leben, ja zu rauchen und zu trinken, als hätten wir mit Bacchus eine Wette abgeschlossen, wer als Erstes unterm Tisch liegt? Tabus, schreibt Popper, beruhen auf magischen Ideen, wie etwa auf der Idee, dass die Schicksalsmächte besänftigt werden müssen. Deshalb hat die Pharmaindustrie dem Botox andere Bereiche als die Heilung von Muskelerkrankungen und Migräne erschlossen, denn die Schicksalsmacht des Alterns sitzt in den Tränensäcken, da kommt die Nadel noch gut hin. Oder warnen Gesundheitsexperten auch schon vor dem Zeug? Also, was jetzt?

Ständig Schläge zu bekommen ist grausam, aber ständig Ratschläge zu bekommen ist sogar die Hölle. Trotzdem erhalten wir von allen Seiten Tipps zur Ernährung, müssen wir in Internettests auskundschaften, ob wir schon Alkoholiker sind oder noch ein normales Trinkverhalten haben - Wenn Sie mehr als drei Fragen mit Ja beantwortet haben, sollten Sie einen Arzt oder Therapeuten konsultieren.

Mittlerweile muss es zur Allgemeinbildung gehören, zu wissen, dass ein Mann nur 20 bis 24 Gramm Alkohol zu sich nehmen darf, wenn er die "risikoarme Schwellendosis" nicht überschreiten will. Frauen sind angehalten, nur die Hälfte davon zu trinken, also einen dionysisch bis zum Rand gefüllten Fingerhut.

Jugendliche haben oft den kuriosen, nomadenhaften und auf manche abstoßend wirkenden Drang, Alkohol im Gehen zu konsumieren. Die Stadt Marburg macht da zum Beispiel nicht mehr mit. Sie hat verfügt, dass im Bereich Elisabeth-Blochmann-Platz, Erlenring, Am Erlengraben von 18 bis 7 Uhr keine Bierflasche mehr öffentlich gezeigt werden darf.

Verwirrte Katzen

Einigermaßen ungeschoren vom Anleitungs- und Reglementierungsfetischismus blieb längere Zeit der Sex. Nachdem Oswald Kolle und andere Nervensägen dieses Feld in den Siebzigern zerpflügt hatten, wurde es privat bestellt, von einigen Ausnahmen abgesehen. Und heute? Kommt keine Online-Zeitung, kein Männer- respektive Frauenmagazin mehr ohne Handreichungen zur qualitativen und quantitativen Verbesserung des Liebeslebens aus.

Laut einer Umfrage der Uniklinik Hamburg haben Männer nur noch vier bis zehnmal im Monat Sex. Das ist offenbar saugefährlich. Noch mehr Umsatz lässt sich in einer neurotischen Gesellschaft nur noch mit einer steilen Gegenthese machen.

Der Charterfolg des Frühjahrs ist Charlotte Roches Buch "Feuchtgebiete". Sie empfiehlt den Frauen, sich bezüglich der Intimhygiene nicht mehr gar so arg ins Zeug zu legen, um mit Eigenaroma zu einer neuen sexuellen Identität zu gelangen. Waschen, nicht waschen, waschen, nicht waschen: Ist es nicht toll, wie sich die verwirrten Katzen in die eigenen, leider ungewaschenen Schwänze beißen?

Doch, unsere "risikoarme Schwellendosis" ist längst überschritten. Wir sind randvoll mit Ernährungsplänen, Gesundheitswarnungen, Verhaltensanleitungen, Beziehungsratschlägen und restriktiven Maßnahmen - selbst wenn man im Straßencafé beim Orkan Emma eine Zigarette anzündet, sitzt hinter einem jemand, der in der Luft wedelt, als hätte man eine Wasserstoffbombe gezündet.

Enthaltsamkeitsübung für Hausmeister

Aber vielleicht ist das ja genau das Problem: In einer Welt, die immer heißer wird und in welcher die sozialen Sicherheiten bröckeln wie die Eisberge in der Antarktis, da müssen kleine Inseln der Sauberkeit und Lauterkeit her. Der Welthandel ist unanständig und rücksichtslos geworden, und jede U-Bahnfahrt kann entweder mit einem Faustschlag ins Gesicht enden oder mit dem lang erwarteten Terroranschlag.

Wir können nichts dagegen unternehmen, weil die Bedrohung so global und unübersichtlich ist. Deshalb stürzen sich die neuen Puritaner auf das Machbare und erklären dem weltweiten Nikotin-, Fett- und Schnaps-Terrorismus den Krieg. Alle wollen sie sauber bleiben in einer von Schmutz und Gewalt durchsuppten Welt. Aber das hilft doch alles nichts.

Helmut Schmidt sagte im Zeit-Interview auf die Frage, ob er wenigstens jungen Leuten vom Rauchen abraten würde: "Ich würde niemandem unerbetene Ratschläge geben." Der alte Schmidt ist ein Held unserer Tage. Und es wäre wünschenswert, wenn auch die Hausmeister und Weltverbesserer für eine Weile Enthaltsamkeit üben und bitte so lange die Luft anhalten, bis man seinen Schweinebraten aufgegessen, seine 60 Milligramm Alkohol runtergeschluckt, die Mousse au chocolat samt Sahnehäubchen ausgelöffelt und vier Zigaretten fertig geraucht hat. Wäre das alles nicht - liberal?

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