Süddeutsche Zeitung

Regisseur Sebastián Lelio:"Wer leben will, muss das Risiko akzeptieren"

Mit 60 sind die Menschen heute längst nicht mehr an der Schwelle zum Tod, sondern haben vielmehr Bedürfnisse, mit denen sie oft allein gelassen werden. Davon handelt die Tragikomödie "Gloria" des chilenischen Regisseurs Sebastián Lelio, die jetzt ins Kino kommt. Ein Gespräch über Jugendwahn, die Rührseligkeit von Italo-Pop und Sex im Alter.

Von Paul Katzenberger

Sebastián Lelio gilt als Filmemacher, der seinen Schauspielern viel Raum zur Improvisation lässt, gleichzeitig aber sehr genaue Vorstellungen von Bild und Ton hat. Seinen Debüt-Spielfilm "La Sagrada Familia" (Die heilige Familie) drehte er 2006 in nur drei Tagen, um dann allerdings ein ganzes Jahr im Schneideraum zuzubringen. Seither ist der Chilene im Festivalbetrieb immer wieder aufgefallen, zuletzt bei der diesjährigen Berlinale, wo sein aktueller Film "Gloria" als einer der Anwärter für den Goldenen Bären gehandelt wurde. Hauptdarstellerin Paulina Garcia bekam für die Verkörperung einer knapp 60-jährige Frau, die noch voller Lebenshunger ist, schließlich den Silbernen Bären als beste weibliche Hauptdarstellerin zugesprochen.

SZ.de: Frauen mittleren Alters sind nicht unbedingt ein Thema, das Filmemacher fasziniert. Was brachte Sie dazu, sich genau dieses Themas anzunehmen?

Sebastián Lelio: Mich hat der Gedanke an eine Frau berührt, die auf die 60 zugeht, die irgendwie einsam ist, für die niemand genug Zeit hat, die aber trotzdem optimistisch ist. Eine Frau, die weiterhin mitten im Leben stehen und das Leben genießen will...

... was man spürt, wenn sie im Auto laut singt...

...ja, die laut mitsingt mit dem Autoradio. Ich fühlte mich stark zu Glorias Emotionalität hingezogen. Der Umstand, dass sie älter ist als ich, bedeutet auch, dass sie dem Tod näher ist als ich, wenn ich das so sagen darf. Dadurch wird für sie alles etwas dringender. Aber auch wir werden alle sterben. Unsere Zeit hier ist kurz. Wir tun also gut daran, alle Chancen und Risiken zu ergreifen und einfach zu leben. Es ist diese Unausweichlichkeit, die glaube ich eine emotionale Verbindung zwischen Film und Publikum schafft. Dieses Band zu knüpfen, hat mich fasziniert.

Der Lebensmut Ihrer "Gloria" ist in der Tat beeindruckend, an ihr ist aber auch die Einsamkeit älterer Menschen gut zu beobachten, die von den eigenen Kindern nicht mehr gebraucht werden und die sich mit der Partnersuche schwer tun. Stellen diese Probleme unsere alternden Gesellschaften vor neue Herausforderungen?

Ich denke schon. Auf die 60 zuzugehen, ist heute kein Synonym mehr für den langsamen Ausstieg aus dem Leben. Heute hat man an diesem Punkt ein ganzes Kapitel vor sich, mit all den Dingen, die das Leben mit sich bringt: Liebschaften, Probleme, Herausforderungen und so weiter. Und damit wird Gloria in meinem Film konfrontiert, genauso wie jeder von uns damit früher oder später davon betroffen sein wird.

Andererseits wird die Jugendlichkeit gesellschaftlich heute stark idealisiert, was sicherlich als Ausdruck von Oberflächlichkeit angesehen werden kann. Sollten wir etwas tun, um das zu ändern?

Ich würde nicht sagen, dass der Jugendkult zwangsläufig etwas Ungesundes ist. In der Jugend liegt eine enorme Kraft. Wer dies verleugnete, der würde denselben Fehler machen, wie derjenige, der ältere Menschen links liegen lässt, nur eben in entgegengesetzter Richtung. In der Tat halte ich aber die gesellschaftliche Wertschätzung für gewisse Dinge für zu einfach: Unsere Besessenheit von der Jugend lässt uns das Wissen des Alters vergessen.

Eine Szene in Ihrem Film zeigt das, als Gloria ihrem Sohn die Nebenwirkungen von Antibiotika erklärt, und er überhaupt nicht zuhört. Was wäre Ihr Ratschlag?

Die Generationen sollten sich gegenseitig besser zuhören und würden beide davon profitieren. Denn dann werden verschiedene Dimensionen der Realität und von Erfahrungen zusammengeführt. Insofern ist die Verleugnung des Alters verrückt. Tatsächlich kommt dadurch wahrscheinlich eine Angst vor dem Tod zum Ausdruck, die ich für kindisch halte.

Ihr Film deutet auch auf ein anderes Problem: Eltern fühlen sich gegenüber ihren Kindern stärker emotional verpflichtet als umgekehrt. Die Beziehung zwischen Gloria und ihrem On-Off-Lover Rodolfo scheitert, weil er alte Abhängigkeiten im Gegensatz zu ihr nicht überwinden kann. Sollten sich Menschen im Alter wieder mehr auf sich selber konzentrieren?

Mein Film lädt den Zuschauer dazu ein, bei dieser Fragestellung Partei für Gloria zu ergreifen. Ihr Bemühen, trotz aller Schwierigkeiten nicht aufhören zu leben, sorgt vielleicht bei manchem Zuschauer für eine Erleuchtung, das hoffe ich zumindest.

Allerdings braucht man dafür die Qualitäten eines Stehaufmännchens. Gloria rappelt sich immer wieder auf und riskiert damit, erneut verletzt zu werden. Können sich Menschen dem Risiko neuen Seelenschmerzes wirklich unendlich lang aussetzen?

Das weiß ich nicht. Aber eins ist klar: Wer die Gefahr meidet, wird vom Leben nicht mehr belohnt. Es besteht eine direkte Beziehung zwischen dem Risiko und dem Umstand, am Leben zu sein. Wer leben will, muss das Risiko akzeptieren. Ansonsten wäre es ein Leben wie aus dem Labor, ein Leben, das am Reißbrett entworfen wurde, und das ist genau das Gegenteil von Leben.

Sie zeigen in "Gloria" explizite Sexszenen zwischen alten Menschen. Haben Sie deswegen Kritik von verstörten Zuschauern einstecken müssen? In Chile ist Ihr Film ja schon in den Kinos gelaufen.

Zu meiner Überraschung nicht wirklich. Ich wollte mit diesen Szenen niemanden schocken. Wegen der geradlinigen Ästhetik des Filmes und seinem Realismus hätte ich es für euphemistisch gehalten, diese nackten Körper zu unterschlagen. Das Leben hinterlässt auf unseren Körpern Spuren. Das müssen wir akzeptieren, doch darin liegt auch eine Schönheit. Wir sollten lernen, sie zu sehen, während uns die Gesellschaft gleichzeitig einredet, da sei keine Schönheit. Ich weiß, dass es für einige jüngere Zuschauer ein bisschen hart war. Sie hatten womöglich das Gefühl, ihren Eltern beim Sex zuzusehen, und das empfanden sie vielleicht als unangemessen.

Paulina Garcia hat für ihre Darstellung der Gloria bei der Berlinale dieses Jahr den Silbernen Bär bekommen. Dabei hat sie sich als kaum bekannte Schauspielerin gegen prominente Konkurrenz durchgesetzt, auch Juliette Binoche, Isabelle Huppert und Catherine Deneuve waren im Wettbewerb vertreten. Wie haben Sie sie gefunden?

Ich bewundere Paulina Garcia seit vielen Jahren. Sie ist in Chile in Theaterkreisen sehr anerkannt als Regisseurin und Schauspielerin, doch sie hatte bislang nur wenige Engagements beim Film, und die waren für Nebenrollen. Das hat mich immer schon gewundert und ich habe auf die Gelegenheit gewartet, ihr eine Rolle anzubieten, die ihren großartigen Fähigkeiten entspricht.

Wenn ich das so sagen darf: Der "Silberne Bär" für Paulina Garcia war sehr berechtigt, schon vor dem Entscheid der Berlinale-Jury galt sie als heiße Anwärterin. Wie ist das Leben für sie mit dem "Silbernen Bären". Deutet sich ein Karriereschub an?

"Gloria" war ein großer Erfolg in Chile und dadurch ist sie inzwischen richtig bekannt geworden. Sie wird jetzt auf der Straße erkannt.

Ihr Film ist in erster Linie eine sehr persönliche Geschichte, doch es gibt einige Querverweise auf die Politik: Sie zeigen Studenten-Demonstrationen auf der Straße und politische Diskussionen im Freundeskreis. Inwieweit ist "Gloria" ein politischer Film?

Ich denke jeder Film ist politisch. Die persönliche Geschichte Glorias ist eingebettet in einen sozialen und historischen Kontext, der zu ganz Chile gehört. Die Forderungen der Studenten, zum Beispiel, korrespondieren mit den individuellen Bedürfnissen, die im Film zum Ausdruck kommen: Respektiert zu werden, wahrgenommen zu werden, würdevoll behandelt zu werden.

In Chile herrscht heute eine Marktwirtschaft, mit all den Härten, die mit diesem Wirtschaftssystem einher gehen. Zumindest werden vor allem diese in Glorias Freundeskreis thematisiert. Ist es für viele Menschen in Chile heute schwer, wirtschaftlich über die Runden zu kommen?

In Chile grassiert ein radikaler Neoliberalismus, sehr brutal und mancher Hinsicht unmenschlich. Chile ist ein reiches Land, das über viele Resourcen verfügt, die allerdings sehr ungleich verteilt sind. Das Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit ist dadurch täglich mit Händen zu greifen. Der Film versucht, diese Unzufriedenheit der Menschen einzufangen. Ich hoffe sehr, dass es Chile gelingt, zu einem faireren sozialen Deal zu kommen, denn das derzeitige System führt zu einem Auseinanderbrechen der Gesellschaft.

Die Musik spielt in Ihrem Film eine wichtige Rolle und die Schlussszene hätte kaum besser untermalt werden können als durch Umberto Tozzis Ohrwurm "Gloria". Haben Sie vielleicht sogar den ganzen Film nach dieser Italo-Disco-Nummer benannt?

Nein, das Lied kam nach dem Filmtitel. Wir haben nach einem Song gesucht, weil wir immer wussten, dass der Film mit einer Tanzszene enden muss. Die Auswahl des richtigen Liedes war sehr wichtig und wir waren sehr wählerisch, bis wir dann darauf gekommen sind, eine Verbindung zwischen dem Filmtitel und diesem kitschigen Pop-Meisterwerk Umberto Tozzis herzustellen.

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