Süddeutsche.de: Haben Sie Ihren Film nach dem Täter benannt, weil Sie ihm exemplarisch eher helfen wollen, als ihn zu verdammen?
Schleinzer: Ich wollte den Film von Anfang an über die Täterseite machen, es gab nicht die kleinste Versuchung, das über die Opferseite zu erzählen. Ein wichtiger Grund dafür war, dass ich den sexuellen Missbrauch selbst in dem Film von Anfang an nicht zeigen wollte.
Süddeutsche.de: Diese Auslassung fällt auf. Der Film hat dadurch eher gewonnen, weil Sie den Zuschauer dadurch mit seiner eigenen - möglicherweise beklemmenden - Phantasie konfrontieren. Doch was hat das genau mit der Täterperspektive zu tun?
Schleinzer: Viele von diesen Pädophilen, die ihre Schuld nicht erkennen wollen und können, sehen die sexuellen Handlungen, die sie mit den Kindern praktizieren, als eine Art von Pädagogik an. Aus ihrer Sicht haben sie dem Kind die Sexualität auf eine schöne Art und Weise näher gebracht. Das wird von ihnen nicht als Verbrechen wahrgenommen, denn sonst könnten die Täter das nicht durchhalten.
Südddeutsche.de: Das heißt: Ihrer Meinung nach ist der sexuelle Missbrauch aus Sicht des Täters keine monströse Grenzüberschreitung und daher konnten Sie in Ihrem Film, der aus der Täterperspektive erzählt wird, genausogut auf die Darstellung des Missbrauchs verzichten?
Schleinzer: Ja. Für das Opfer ist der sexuelle Missbrauch so etwas Großes, dass der Film künstlich geworden wäre, wenn er aus der Opferperspektive erzählt worden und der sexuelle Missbrauch ausgespart worden wäre. Ich hätte ihn zeigen müssen, aber das wollte ich nicht. Denn hier geht es auch um Würde und Demut gegenüber dem Opfer wie auch gegenüber dem Täter.
Süddeutsche.de: Würde und Demut gegenüber dem Täter, das dürfte für viele provozierend klingen.
Schleinzer: Die Würde des Menschen ist unantastbar - das ist doch ein ethischer Grundsatz, auf den wir uns mehr oder weniger geeinigt haben. Jedes Gericht, jedes Strafverfahren spricht im Prinzip Tätern eine Würde zu, was aber nichts an Schuld und Strafe ändert. Die Frage ist nur: Sind wir noch die Gesellschaft, die nach diesem Grundsatz leben will - waren wir die je? Ich nehme mich da ja nicht aus, auch ich trage den Mob in mir. Wenn ich von ungeheuerlichen Verbrechen höre, gerade wenn sie Kinder betreffen, ist meine erste Reaktion auch immer: Mit denen sollte man kurzen Prozess machen! Das hat mich sehr erschrocken und an die Arbeit über dieses Thema herangetrieben. Natürlich ist für viele: 'Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein' die ultimative Provokation. Aber die ist nicht von mir!
Süddeutsche.de: Ich nehme an, sie wollten durch den Verzicht auf die Darstellung des Missbrauchs auch den kindlichen Schauspieler David Rauchenberger schützen.
Schleinzer: Absolut. Der Knabe war zehn als wir gedreht haben. Er kommt aus einem sehr offenen Elternhaus. Die Mutter hat während der Dreharbeiten ihr fünftes Kind geboren. Der David wusste, dass es so etwas wie Sexualität gibt und dass das schön ist und dass man das mit dem Partner teilt. Er hat nur noch keine aktiven Bilder dazu, und es war nicht meine Aufgabe, ihm diese Bilder ins Gehirn zu pflanzen.
Süddeutsche.de: Das klingt so, als ob Sie sich präventiv gegen den Vorwurf schützen wollen, ein Kind mit diesem Thema konfrontiert zu haben.
Schleinzer: Sexueller Missbrauch von Kindern ist ein unheimliches Tabu in unserer Gesellschaft und ich finde das richtig. Es gibt ja Tabus, die haben einen Sinn und die haben einen Wert. Aber darüber zu berichten, darüber zu reden, darüber Diskussionen anzuregen - dass kann kein Tabu sein. Denn wäre es ein Tabu, würde es im selben Maße Täter unsichtbar machen wie auch Opfer. Und das ist ja genau das, was wir in den letzten Jahrzehnten so phantastisch praktiziert haben, weil es unangenehm ist, weil wir uns damit nicht konfrontieren wollen. Nur, es hilft ja nichts, man muss es tun, wenn man etwas erreichen oder verändern will.
Süddeutsche.de: Obwohl der Film nach ihm benannt ist, anonymisieren Sie den Täter Michael in Ihrem Film: Sein Name fällt erst nach circa einer Stunde, der Name des Opfers wird im ganzen Film nicht genannt. Wollten sie mit dieser Anonymität eines in weiten Teilen ganz normalen Kleinbürgers verhindern, dass der Zuschauer sich sagen kann: 'Ach, das ist halt der Michael, ich bin ganz anders'? Provozierender gefragt: Betrachten Sie Ihren pädophilen Michael als beispielhaft für viele Menschen, auch solche, die diese Neigung nicht haben?
Schleinzer: Ich denke ja. Das ist ein Mensch, der hat eine Sehnsucht, er will Liebe, das was wir alle wollen. Und er funktioniert ja auch in unterschiedlichen, ganz geläufigen Schemata. Das ist ja nicht eine Figur, sondern viele. Er spielt die Figur des lieblichen Vaters, der dem Kind etwas zeigen will. Dann gibt es bei ihm die Facette der Kindlichkeit, dann gibt es jemanden in der Öffentlichkeit, der mit Bürokollegen in den Urlaub fährt und sich als Skifahrer beweisen will. Für mich ist es sehr spannend, dass nach diesem Film sehr viele Leute zu mir kommen und mir sagen, sie hätten sich wiedererkannt, es sei so unheimlich.