Der Österreicher Markus Schleinzer gehört zu den wenigen Filmemachern, die es geschafft haben, ohne Referenzen nach Cannes geladen zu werden. Sein Regiedebüt "Michael" lief an der Croisette im vergangenen Jahr im Wettbewerb. Einen Namen machte sich der 40-Jährige bislang als Casting-Director, der für viele große Regisseure des österreichischen Films wie Stefan Ruzowitzky, Ulrich Seidl und Michael Haneke gearbeitet hat. In Cannes kannte er sich daher schon aus - für Hanekes Film das "Das weiße Band", der vor zwei Jahren die Goldene Palme gewann, castete er 48 Kinder. Für "Michael" bekam er vor wenigen Tagen den Ophüls-Preis zuerkannt.
Der österreichische Regisseur Markus Schleinzer: "Es gibt tausenderlei Arten, Verbrecher oder Opfer zu werden."
(Foto: Viktor Bràzdil)Süddeutsche.de: Wenn ein Österreicher einen Film wie Michael macht, liegt es nahe, dass die Fälle Kampusch oder Fritzl die Vorlage abgegeben haben. Haben Sie das, was man von diesen Fällen weiß, mit in den Film eingebaut?
Markus Schleinzer: Nein, ich habe versucht, mich davor zu schützen. Ich war natürlich beeinflusst von den Medienberichten. Aber ich habe mir verboten, zu recherchieren. Denn ich wollte nicht während meiner möglichen Recherche auf Tatsachen und Geschichten stoßen, die ich so sehr interessant finde, dass ich sie zwingend für mein Kunstschaffen nutzen möchte.
Süddeutsche.de: Warum nicht?
Schleinzer: Weil ich glaube, dass der reale Schmerz und die realen Geschichten den echten Opfern gehören, und nur die können darüber urteilen, was damit zu geschehen hat. Den Film über Natascha Kampusch wird es ja geben, den hat Bernd Eichinger noch angefangen und das Drehbuch zur Hälfte geschrieben. Ich habe aber versucht, einen Film zu machen, der über diese Momentaufnahme des Realen hinausgeht. Was mich am meisten beschäftigt hat, war ich selbst bei dem Umgang mit diesem Thema.
Süddeutsche.de: Aber es gibt ja offensichtliche Parallelen: Das penibel abgeschottete Vorstadthäuschen Michaels scheint dem Haus des Kampusch-Peinigers Wolfgang Priklopil in einem Wiener Vorort nachempfunden zu sein. Der kleine Wolfgang lebt wie Natascha Kampusch in einem Kellerverlies und darf wie sie nur zu bestimmten Zeiten heraus.
Schleinzer: Das sind oberflächliche Gemeinsamkeiten, die sich bei diesem Thema kaum vermeiden lassen. Das Buch, das Natascha Kampusch geschrieben hat, kam zwei Wochen vor unserem Drehbeginn heraus. Ich bin sofort in den Buchladen gelaufen, weil ich Angst hatte, dass es Geschichten gibt, die ähnlich erzählt sind. Und in der Tat gibt es in ihrem Buch zwei Dinge, die sie so beschrieben hat, wie ich sie in meinem Drehbuch auch beschrieb. Die habe ich sofort rausgenommen. Denn ich habe gar kein Interesse, vermeintlicher Trittbrettfahrer einer Tragödie zu sein und Aufsehen zu erregen.
Süddeutsche.de: Der Fall Kampusch dürfte Ihrem Film aber zumindest Aufmerksamkeit verschaffen. Mit Michael bringen Sie das Thema unweigerlich wieder auf die Agenda.
Schleinzer: Aber in ganz anderer Weise. Ich habe ja gerade versucht, etwas zu machen, was gegen die Provokation, gegen das Skandalisieren und gegen das Verteufeln geht. Das Thema ist ja viel zu groß, um es an einem singulären Sachverhalt wie dem Fall Kampusch festzumachen. Es entlastet uns immer, zu sagen: "Na ja, das ist jetzt die Kampusch-Sache." Damit schieben wir das Thema gut verpackt weg, was wir gerne tun, weil wir uns nur ungern damit auseinandersetzen, weil es ein Thema ist, das Angst macht.
Süddeutsche.de: Die Angst, sich damit zu konfrontieren, dass Pädophilie etwas Menschliches ist?
Schleinzer: Richtig. Niemand will das. Wenn wir den Statistiken glauben, die ich verheerend finde, die besagen, dass jedes vierte Mädchen und jeder sechste Junge in seiner Jugend sexuellen Übergriffen ausgesetzt ist, dann bedeutet das zwangsläufig, dass wir wissentlich oder unwissentlich mindestens ein weibliches und ein männliches Opfer kennen müssten und das bedeutet auch, dass man zumindest einen Täter in seinem Umfeld haben muss.
Süddeutsche.de: Das heißt, die Pädophilie ist mitten unter uns und davor verschließen wir Ihrer Meinung nach die Augen?
Schleinzer: Die Opfer sind uns auf jeden Fall unangenehm. Das kennt man aus Familienverbänden. Wenn die Tochter sagt: 'Ich bin vom besten Freund der Familie oder vom Onkel missbraucht worden.' Dass das Opfer auf irgendeine Art und Weise angegriffen wird, weil es sich das Recht herausnimmt, die Wahrheit zu sagen.
Süddeutsche.de: Wie unangenehm sind uns die Täter?
Schleinzer: Unangenehm, weil wir uns nicht gern moralische Fragen zu "Gut & Böse" stellen lassen. Täter sind Spiegelbilder unserer Gesellschaft und unserer Zeit. Jeder Täter und jede Täterin legt einen Finger in die Wunde der gesellschaftlich ungelösten Probleme und in das, was gerne verdrängt wird. Aber die sogenannte und ersehnte moralische Wahrheit ist leider nicht oberflächlich zu finden; da muss man immer in die Tiefe gehen.
Süddeutsche.de: Wie können wir in diese Tiefe vorstoßen, um der Wahrheit näher zu kommen?
Schleinzer: Das weiß ich noch nicht, doch mein Film soll ein Diskussionsbeitrag dazu sein. Wenn Sie die großen Kriminalfälle Fritzl und Kampusch nehmen, dann hatte die Rezeption bislang wenig mit Wahrheit zu tun, sondern man hat sie dem Boulevard überlassen, was mich mit am meisten erschüttert hat. Wir wissen doch alle, mit welchen Formeln der Boulevard operiert, da geht es um Entertainment, aber nicht um eine ernstzunehmende Diskussion, die Opfern und vielleicht auch Tätern helfen soll.