Regisseur Schleinzer über Pädophilie:"Wir alle sind Täter"

Lesezeit: 9 Min.

Er will nicht skandalisieren, doch das Spielfilmdebüt "Michael" von Regisseur Markus Schleinzer polarisiert. Sein Film stellt das maximal Unbegreifliche und Verwerfliche dar: das erzwungene Zusammenleben eines zehnjährigen Jungen mit einem pädophilen Mann. Ein Gespräch über die menschliche Würde, die Demut gegenüber Opfern und Tätern und die Keimzelle des Bösen - die Familie.

Paul Katzenberger

Der Österreicher Markus Schleinzer gehört zu den wenigen Filmemachern, die es geschafft haben, ohne Referenzen nach Cannes geladen zu werden. Sein Regiedebüt "Michael " lief an der Croisette im vergangenen Jahr im Wettbewerb. Einen Namen machte sich der 40-Jährige bislang als Casting-Director, der für viele große Regisseure des österreichischen Films wie Stefan Ruzowitzky, Ulrich Seidl und Michael Haneke gearbeitet hat. In Cannes kannte er sich daher schon aus - für Hanekes Film das "Das weiße Band", der vor zwei Jahren die Goldene Palme gewann, castete er 48 Kinder. Für "Michael" bekam er vor wenigen Tagen den Ophüls-Preis zuerkannt.

Der österreichische Regisseur Markus Schleinzer: "Es gibt tausenderlei Arten, Verbrecher oder Opfer zu werden." (Foto: Viktor Bràzdil)

Süddeutsche.de: Wenn ein Österreicher einen Film wie Michael macht, liegt es nahe, dass die Fälle Kampusch oder Fritzl die Vorlage abgegeben haben. Haben Sie das, was man von diesen Fällen weiß, mit in den Film eingebaut?

Markus Schleinzer: Nein, ich habe versucht, mich davor zu schützen. Ich war natürlich beeinflusst von den Medienberichten. Aber ich habe mir verboten, zu recherchieren. Denn ich wollte nicht während meiner möglichen Recherche auf Tatsachen und Geschichten stoßen, die ich so sehr interessant finde, dass ich sie zwingend für mein Kunstschaffen nutzen möchte.

Süddeutsche.de: Warum nicht?

Schleinzer: Weil ich glaube, dass der reale Schmerz und die realen Geschichten den echten Opfern gehören, und nur die können darüber urteilen, was damit zu geschehen hat. Den Film über Natascha Kampusch wird es ja geben, den hat Bernd Eichinger noch angefangen und das Drehbuch zur Hälfte geschrieben. Ich habe aber versucht, einen Film zu machen, der über diese Momentaufnahme des Realen hinausgeht. Was mich am meisten beschäftigt hat, war ich selbst bei dem Umgang mit diesem Thema.

Süddeutsche.de: Aber es gibt ja offensichtliche Parallelen: Das penibel abgeschottete Vorstadthäuschen Michaels scheint dem Haus des Kampusch-Peinigers Wolfgang Priklopil in einem Wiener Vorort nachempfunden zu sein. Der kleine Wolfgang lebt wie Natascha Kampusch in einem Kellerverlies und darf wie sie nur zu bestimmten Zeiten heraus.

Schleinzer: Das sind oberflächliche Gemeinsamkeiten, die sich bei diesem Thema kaum vermeiden lassen. Das Buch, das Natascha Kampusch geschrieben hat, kam zwei Wochen vor unserem Drehbeginn heraus. Ich bin sofort in den Buchladen gelaufen, weil ich Angst hatte, dass es Geschichten gibt, die ähnlich erzählt sind. Und in der Tat gibt es in ihrem Buch zwei Dinge, die sie so beschrieben hat, wie ich sie in meinem Drehbuch auch beschrieb. Die habe ich sofort rausgenommen. Denn ich habe gar kein Interesse, vermeintlicher Trittbrettfahrer einer Tragödie zu sein und Aufsehen zu erregen.

Süddeutsche.de: Der Fall Kampusch dürfte Ihrem Film aber zumindest Aufmerksamkeit verschaffen. Mit Michael bringen Sie das Thema unweigerlich wieder auf die Agenda.

Schleinzer: Aber in ganz anderer Weise. Ich habe ja gerade versucht, etwas zu machen, was gegen die Provokation, gegen das Skandalisieren und gegen das Verteufeln geht. Das Thema ist ja viel zu groß, um es an einem singulären Sachverhalt wie dem Fall Kampusch festzumachen. Es entlastet uns immer, zu sagen: "Na ja, das ist jetzt die Kampusch-Sache." Damit schieben wir das Thema gut verpackt weg, was wir gerne tun, weil wir uns nur ungern damit auseinandersetzen, weil es ein Thema ist, das Angst macht.

Süddeutsche.de: Die Angst, sich damit zu konfrontieren, dass Pädophilie etwas Menschliches ist?

Schleinzer: Richtig. Niemand will das. Wenn wir den Statistiken glauben, die ich verheerend finde, die besagen, dass jedes vierte Mädchen und jeder sechste Junge in seiner Jugend sexuellen Übergriffen ausgesetzt ist, dann bedeutet das zwangsläufig, dass wir wissentlich oder unwissentlich mindestens ein weibliches und ein männliches Opfer kennen müssten und das bedeutet auch, dass man zumindest einen Täter in seinem Umfeld haben muss.

Süddeutsche.de: Das heißt, die Pädophilie ist mitten unter uns und davor verschließen wir Ihrer Meinung nach die Augen?

Schleinzer: Die Opfer sind uns auf jeden Fall unangenehm. Das kennt man aus Familienverbänden. Wenn die Tochter sagt: 'Ich bin vom besten Freund der Familie oder vom Onkel missbraucht worden.' Dass das Opfer auf irgendeine Art und Weise angegriffen wird, weil es sich das Recht herausnimmt, die Wahrheit zu sagen.

Süddeutsche.de: Wie unangenehm sind uns die Täter?

Schleinzer: Unangenehm, weil wir uns nicht gern moralische Fragen zu "Gut & Böse" stellen lassen. Täter sind Spiegelbilder unserer Gesellschaft und unserer Zeit. Jeder Täter und jede Täterin legt einen Finger in die Wunde der gesellschaftlich ungelösten Probleme und in das, was gerne verdrängt wird. Aber die sogenannte und ersehnte moralische Wahrheit ist leider nicht oberflächlich zu finden; da muss man immer in die Tiefe gehen.

Süddeutsche.de: Wie können wir in diese Tiefe vorstoßen, um der Wahrheit näher zu kommen?

Schleinzer: Das weiß ich noch nicht, doch mein Film soll ein Diskussionsbeitrag dazu sein. Wenn Sie die großen Kriminalfälle Fritzl und Kampusch nehmen, dann hatte die Rezeption bislang wenig mit Wahrheit zu tun, sondern man hat sie dem Boulevard überlassen, was mich mit am meisten erschüttert hat. Wir wissen doch alle, mit welchen Formeln der Boulevard operiert, da geht es um Entertainment, aber nicht um eine ernstzunehmende Diskussion, die Opfern und vielleicht auch Tätern helfen soll.

Süddeutsche.de: Haben Sie Ihren Film nach dem Täter benannt, weil Sie ihm exemplarisch eher helfen wollen, als ihn zu verdammen?

Schleinzer: Ich wollte den Film von Anfang an über die Täterseite machen, es gab nicht die kleinste Versuchung, das über die Opferseite zu erzählen. Ein wichtiger Grund dafür war, dass ich den sexuellen Missbrauch selbst in dem Film von Anfang an nicht zeigen wollte.

Süddeutsche.de: Diese Auslassung fällt auf. Der Film hat dadurch eher gewonnen, weil Sie den Zuschauer dadurch mit seiner eigenen - möglicherweise beklemmenden - Phantasie konfrontieren. Doch was hat das genau mit der Täterperspektive zu tun?

Schleinzer: Viele von diesen Pädophilen, die ihre Schuld nicht erkennen wollen und können, sehen die sexuellen Handlungen, die sie mit den Kindern praktizieren, als eine Art von Pädagogik an. Aus ihrer Sicht haben sie dem Kind die Sexualität auf eine schöne Art und Weise näher gebracht. Das wird von ihnen nicht als Verbrechen wahrgenommen, denn sonst könnten die Täter das nicht durchhalten.

Südddeutsche.de: Das heißt: Ihrer Meinung nach ist der sexuelle Missbrauch aus Sicht des Täters keine monströse Grenzüberschreitung und daher konnten Sie in Ihrem Film, der aus der Täterperspektive erzählt wird, genausogut auf die Darstellung des Missbrauchs verzichten?

Schleinzer: Ja. Für das Opfer ist der sexuelle Missbrauch so etwas Großes, dass der Film künstlich geworden wäre, wenn er aus der Opferperspektive erzählt worden und der sexuelle Missbrauch ausgespart worden wäre. Ich hätte ihn zeigen müssen, aber das wollte ich nicht. Denn hier geht es auch um Würde und Demut gegenüber dem Opfer wie auch gegenüber dem Täter.

Süddeutsche.de: Würde und Demut gegenüber dem Täter, das dürfte für viele provozierend klingen.

Schleinzer: Die Würde des Menschen ist unantastbar - das ist doch ein ethischer Grundsatz, auf den wir uns mehr oder weniger geeinigt haben. Jedes Gericht, jedes Strafverfahren spricht im Prinzip Tätern eine Würde zu, was aber nichts an Schuld und Strafe ändert. Die Frage ist nur: Sind wir noch die Gesellschaft, die nach diesem Grundsatz leben will - waren wir die je? Ich nehme mich da ja nicht aus, auch ich trage den Mob in mir. Wenn ich von ungeheuerlichen Verbrechen höre, gerade wenn sie Kinder betreffen, ist meine erste Reaktion auch immer: Mit denen sollte man kurzen Prozess machen! Das hat mich sehr erschrocken und an die Arbeit über dieses Thema herangetrieben. Natürlich ist für viele: 'Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein' die ultimative Provokation. Aber die ist nicht von mir!

Süddeutsche.de: Ich nehme an, sie wollten durch den Verzicht auf die Darstellung des Missbrauchs auch den kindlichen Schauspieler David Rauchenberger schützen.

Schleinzer: Absolut. Der Knabe war zehn als wir gedreht haben. Er kommt aus einem sehr offenen Elternhaus. Die Mutter hat während der Dreharbeiten ihr fünftes Kind geboren. Der David wusste, dass es so etwas wie Sexualität gibt und dass das schön ist und dass man das mit dem Partner teilt. Er hat nur noch keine aktiven Bilder dazu, und es war nicht meine Aufgabe, ihm diese Bilder ins Gehirn zu pflanzen.

Süddeutsche.de: Das klingt so, als ob Sie sich präventiv gegen den Vorwurf schützen wollen, ein Kind mit diesem Thema konfrontiert zu haben.

Schleinzer: Sexueller Missbrauch von Kindern ist ein unheimliches Tabu in unserer Gesellschaft und ich finde das richtig. Es gibt ja Tabus, die haben einen Sinn und die haben einen Wert. Aber darüber zu berichten, darüber zu reden, darüber Diskussionen anzuregen - dass kann kein Tabu sein. Denn wäre es ein Tabu, würde es im selben Maße Täter unsichtbar machen wie auch Opfer. Und das ist ja genau das, was wir in den letzten Jahrzehnten so phantastisch praktiziert haben, weil es unangenehm ist, weil wir uns damit nicht konfrontieren wollen. Nur, es hilft ja nichts, man muss es tun, wenn man etwas erreichen oder verändern will.

Süddeutsche.de: Obwohl der Film nach ihm benannt ist, anonymisieren Sie den Täter Michael in Ihrem Film: Sein Name fällt erst nach circa einer Stunde, der Name des Opfers wird im ganzen Film nicht genannt. Wollten sie mit dieser Anonymität eines in weiten Teilen ganz normalen Kleinbürgers verhindern, dass der Zuschauer sich sagen kann: 'Ach, das ist halt der Michael, ich bin ganz anders'? Provozierender gefragt: Betrachten Sie Ihren pädophilen Michael als beispielhaft für viele Menschen, auch solche, die diese Neigung nicht haben?

Schleinzer: Ich denke ja. Das ist ein Mensch, der hat eine Sehnsucht, er will Liebe, das was wir alle wollen. Und er funktioniert ja auch in unterschiedlichen, ganz geläufigen Schemata. Das ist ja nicht eine Figur, sondern viele. Er spielt die Figur des lieblichen Vaters, der dem Kind etwas zeigen will. Dann gibt es bei ihm die Facette der Kindlichkeit, dann gibt es jemanden in der Öffentlichkeit, der mit Bürokollegen in den Urlaub fährt und sich als Skifahrer beweisen will. Für mich ist es sehr spannend, dass nach diesem Film sehr viele Leute zu mir kommen und mir sagen, sie hätten sich wiedererkannt, es sei so unheimlich.

Süddeutsche.de: Soll das heißen, dass Sie die Pädophile nur als Aufhänger genutzt haben, um allgemeine menschliche Bedürfnisse darzustellen?

Schleinzer: Pädophilie ist das Thema, das die beiden Hauptdarsteller zusammengebracht hat, aber letztendlich beschreibt der Film die Beziehung der beiden zueinander. Es gibt unterschiedliche Beziehungsstrukturen, die viele Leute wiedererkennen aus ihren eigenen Beziehungen.

Süddeutsche.de: Das klingt ja so, als ob Sie die Leute mit einer kriminellen und verwerflichen Variante einer Beziehung vor den Kopf stoßen, um sie mit ihren eigenen Beziehungsproblemen zu konfrontieren.

Schleinzer: Wir alle sind Täter und wir alle sind Opfer, wenn es um das Zwischenmenschliche geht. Der Tätergrad oder der Opfergrad ist sicherlich ambivalent und unterschiedlich, doch es gibt tausenderlei Arten, Verbrecher oder Opfer zu werden. Wir wissen doch alle, dass die Keimzelle des Bösen die Familie ist. Es werden nirgendwo mehr Verbrechen begangen als im Familienverband.

Süddeutsche.de: Doch nur in Extremfällen erreichen diese Verbrechen das Ausmaß eines Missbrauchs durch einen Pädophilen.

Schleinzer: Sicher, aber man kann vielleicht sagen, dass das große Verbrechen auf die kleine Schuld aufmerksam macht, dass das Größere das Kleinere und Feinere sichtbar macht. Extreme schaffen Bewusstsein: für einen selbst, für Urteile, aber auch Vorurteile - da ist man doch sowieso immer gut beraten, das zu überprüfen.

Süddeutsche.de: Haben Sie sich in Ihrem Film deswegen einer Wertung des Verhaltens von Michael enthalten? Weil wir selbst Täter sind und kein recht haben zu richten?

Schleinzer: Ich habe bewusst nicht den moralischen Zeigefinger gehoben. Denn wo fängt man da an? Da ist man in Teufels Küche. Ich wurde so oft gefragt, warum ich nicht zum Beispiel erzählt habe, dass Michael in seiner Kindheit ebenfalls missbraucht wurde. Doch das ist alles ein Humbug.

Süddeutsche.de: Die Entwicklung, dass kindliche Opfer wegen ihrer Traumata zu erwachsenen Tätern werden, besteht Ihrer Meinung nach nicht?

Schleinzer: Ich habe meine Geschichte auch wissenschaftlich überprüfen lassen. Es ist eine junge Wissenschaft, und es gibt noch nichts, was man wirklich mit hundert Prozent Garantie als Anlass und Ursache benennen könnte. Es wäre also absurd, zu behaupten, er hätte so agiert, weil er als Kind auch missbraucht worden wäre. Auch mathematisch kann es nicht hinhauen. Denn wenn wir zu unserer Statistik zurückkehren, die besagt, dass jedes vierte Mädchen und jeder sechste Bursche missbraucht wird, dann heißt das ja, dass mehr Mädchen missbraucht werden als Jungen, doch die meisten Pädophilen sind Männer.

Süddeutsche.de: Das Opfer Wolfgang entwickelt in Ihrem Film gegenüber dem Täter Michael kaum positive Gefühle, er zieht sich vielmehr stark in sich selbst zurück. Wir wissen von solchen Fällen, dass die Opfer aber häufig eine enge emotionale Bindung zum Täter entwickeln. Warum geschieht das in Michael relativ wenig?

Schleinzer: Sie zielen auf das "Stockholm-Syndrom" ab, von dem ich glaube, das es sehr viel Unrecht verursacht hat in den letzten Jahrzehnten. Sobald ein Opfer auf irgendeine Art und Weise etwas als nicht so schrecklich empfunden hat, wurde das Stockholm-Syndrom zitiert und das wollte ich absolut vermeiden.

Süddeutsche.de: Warum?

Schleinzer: Weil es mir zu naiv ist. Ich glaube, dass beide Beteiligten etwas Ähnliches anstreben, nämlich Normalität. Er, der Erwachsene, weil er nichts mehr will, als eine Beziehung zu leben. Das hat er sich abgeschaut von anderen. Natürlich isst man gemeinsam, schaut gemeinsam fern und feiert auch Weihnachten gemeinsam und singt ein hübsches Weihnachtslied. Solche gemeinsamen Aktivitäten machen 95 Prozent des Zusammenlebens aus und vielleicht fünf Prozent der sexuelle Übergriff.

Süddeutsche.de: Der für das Opfer die Normalität aber dominieren dürfte.

Schleinzer: Schon, aber auch das Kind muss eine gewisse Art von Normalität anstreben, wenngleich aus einer anderen Perspektive. Denn wenn man zusammen lebt und isst und fast durch eine Art von Harmlosigkeit verbunden ist, dann ist das andere in diesem Moment nicht da, nämlich der Missbrauch. Ich glaube nicht, dass sich jedes Opfer zwangsläufig in seinen Täter verlieben und ihn anschließend verteidigen muss, nur weil es versucht, es sich in diesem System angenehm zu machen.

Süddeutsche.de: Ihr Film hat es ja im vergangenen Jahr als einziger deutschsprachiger Beitrag in den Wettbewerb von Cannes geschafft und dort für Aufregung gesorgt. Wie haben Sie selbst das erlebt?

Schleinzer: Das liegt natürlich an dem Thema, das Angst macht. Ich war nicht glücklich, als ich in Cannes ankam und erfuhr, dass Michael als "Skandalfilm des Jahres" promoted wurde. Das fand ich kontraproduktiv gegenüber dem, was ich bezwecken wollte.

© Süddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: