Regisseur Glasner über Vergebung:"Mensch sein heißt schuldig werden"

Die Protagonisten seiner Filme sind Vergewaltiger, Pädophile oder andere Triebtäter: Matthias Glasner ist fasziniert vom Kampf des Menschen mit seinen Dämonen. Im neuen Film "Gnade" präsentiert der Regisseur Birgit Minichmayr als Gutmenschen, der plötzlich mit tiefer Schuld leben muss. Ein Gespräch über die Unteilbarkeit von Gut und Böse und den Kleinmut im deutschen Kino.

Paul Katzenberger

Regisseur Glasner über Vergebung: Regisseur Matthias Glasner nördlich des Polarkreises am Set von "Gnade" in Hammerfest: "Die Schauspieler spielen anders in der Kälte, wir sind als Team anders, der Film wird dadurch noch mit einer anderen als der eigenen Wirklichkeit aufgeladen."

Regisseur Matthias Glasner nördlich des Polarkreises am Set von "Gnade" in Hammerfest: "Die Schauspieler spielen anders in der Kälte, wir sind als Team anders, der Film wird dadurch noch mit einer anderen als der eigenen Wirklichkeit aufgeladen."

(Foto: Sven Ole Rennecke)

Das Werk von Regisseur Matthias Glasners ist untrennbar mit Jürgen Vogel verbunden. Die Komödie "Die Mediocren", mit der Glasner 1995 bei der Berlinale der Durchbruch gelang, war der Auftakt einer jahrelangen Zusammenarbeit der beiden gebürtigen Hamburger, die 2006 in dem umstrittenen Drama "Der freie Wille" gipfelte. Für die Darstellung des Vergewaltigers Theo Stoer wurde Vogel damals mit Preisen überhäuft - und Glasner gehört seither zur ersten Riege des deutschen Autorenkinos. Auch in seinem neuesten Spielfilm "Gnade" besetzte der 47-Jährige die männliche Hauptrolle mit seinem langjährigen Freund Vogel, der gemeinsam mit Birgit Minichmayr ein junges deutsches Ehepaar in nordnorwegischen Hammerfest darstellt. Das bildgewaltige Drama, in dem es um das Schuldigwerden und den Umgang damit geht, war bei der diesjährigen Berlinale unter den Kritikern umstritten. Der Regisseur nahm's - wie immer - in Kauf.

Süddeutsche.de: Ihr Film "Gnade" lief bei der Berlinale im Wettbewerb, doch bekam wesentlich weniger Aufmerksamkeit als der deutsche Konkurrenzfilm "Barbara" von Christian Petzold, der einen "Silbernen Bären" abräumte. Sind Sie enttäuscht?

Matthias Glasner: "Barbara" lief auf der Berlinale ein paar Tage vor "Gnade" und dann hat man es schwer dagegen. Aber letztendlich habe ich immer das Gefühl, dass es sich ohnehin erst in ein paar Jahren zeigt, welche Filme bleiben und welche vergehen. Es gibt so viele Filme, die einen Oscar gewinnen und dann vergessen werden, während die anderen, die verloren haben, sich durchsetzen.

Die große Stunde von "Gnade" kommt also noch?

Das weiß ich nicht, aber ich bin sehr im Reinen mit mir, weil ich zusammen mit anderen Leuten Filme mache, von denen wir glauben, dass sie eine Relevanz haben. Mein Film "Der freie Wille" hat in Deutschland auch wenig gewonnen und trotzdem ist das ein Film, auf den ich immer wieder angesprochen werde, der bleibt, der sich nach wie vor auf DVD verkauft und weltweit gesehen wird.

Schon der Titel von "Gnade" wirkt wie der Imperativ Vergebung walten zu lassen. Der ganze Film wiederholt diese Aufforderung immer wieder. Warum wollten Sie eine Geschichte erzählen, die zum Üben von Nachsicht auffordert?

Das war nicht der Grund, den Film zu machen. Eigentlich wollte ich einen Science-Fiction-Film machen in der Art der Mars-Chroniken von Ray Bradbury, in denen sich die Zivilisation auf einem anderen Planeten neu erfindet. Also habe ich eine Familie in diese lebensfeindliche Landschaft gehen lassen, in der für sie noch einmal alles von vorne anfängt.

Der Film spielt im norwegischen Hammerfest, wo von Ende November bis Ende Januar Tag und Nacht Dunkelheit herrscht. Warum? Es geht ja um universelle Themen, die eben nicht weit weg sind, sondern mitten unter uns.

Ich habe diese feindselige Landschaft auf einem Filmfest kennengelernt. Ich fand, sie eignete sich gut für Bradburys Grundidee, und deswegen habe ich die Geschichte aus dem Drehbuch, die eigentlich in Kopenhagen spielt, dahin verlegt. Ich fand es auch einen tollen Kontrast: diese gigantische Landschaft und diese sehr kleine und sehr intime Mikrogeschichte.

Natürlich hat Ihnen diese Landschaft tolle Bilder verschafft, aber schwächen Sie die Aussage des Filmes damit nicht ab? Andreas Dresen hat vergangenes Jahr beispielsweise mit "Halt auf freier Strecke" eine Krebs-Tragödie filmisch umgesetzt, wie sie sich mitten in unserem ganz normalen Leben ständig ereignet. Er wollte damit zeigen, dass sich so ein großes existenzielles Thema wie der Tod nicht wegschieben lässt, auch wenn wir das in unserer nahezu perfekten Zivilisation gelegentlich glauben.

Im Gegensatz zu Andreas Dresen ist es mir immer wichtig, dass meine Filme den Charakter einer Reise oder eines Abenteuers haben. Mir macht es Spaß, diese Reise selber woandershin zu machen. Diese Reise verändert uns alle - die Schauspieler spielen anders in der Kälte, wir sind als Team anders, der Film wird dadurch noch mit einer anderen als der eigenen Wirklichkeit aufgeladen. Ich finde es toll, wie ehrlich und authentisch das Andreas macht, doch ich habe für mich immer noch einen anderen Wunsch.

So verständlich Ihr Wunsch ist, zu reisen, bekommen die Zuschauer nicht vielleicht das Gefühl: 'Das hat mit mir nichts zu tun, ich lebe nicht in Hammerfest, ich habe hier meinen ganz stinknormalen Alltag'?

Ein bisschen "Bigger than life" - was ist so schlimm daran? In Deutschland wird das einfach nicht gern gesehen. Immer sind die kleineren Bilder die ehrlicheren. Man hat es immer lieber, wenn der Filmemacher ein bisschen bescheidener ist.

"Menschen sind absolut in der Lage zu vergeben"

Liegt in der Bescheidenheit nicht auch mehr Wahrheit?

Themendienst Kino: Gnade

Nicht mehr so gut in der Lage, vor einander wegzulaufen: Maria (Birgit Minichmayr, links) und Nils (Jürgen Vogel) in "Gnade". 

(Foto: dapd)

Im Leben ist Bescheidenheit gut, aber als Filmemacher muss das nicht sein. Dadurch, dass es eine Familiengeschichte ist, mit den typischen Problemen, wie sich zu betrügen oder keinen Kontakt mehr zum Kind zu haben, glaube ich, den Zuschauer erreichen zu können. Ich hoffe jedenfalls, dass der Film einladender ist als meine vorigen Filme, da war es wirklich schwierig, sich auf die Personen einzulassen. Doch dieses Mal habe ich die Tür hoffentlich ein bisschen weiter aufgemacht.

Eine Art von Fernweh gab Ihnen also den Anstoß für den Film. Sind Sie dann erst während der Dreharbeiten auf die Quintessenz dieses Dramas - die Übung von Vergebung - gekommen?

Richtig. Das lief am Schluss so für mich hinaus. Ich stellte mir die Frage, was denn die Zivilisation will, wenn sie sich neu erfinden muss? Und da kam ich auf die Vision, dass Vergebung etwas wäre, das uns allen das Zusammenleben leichter machen würde. Ein schöner Gedanke.

Für den Sie aber auch harsch kritisiert wurden. Die letzte Szene, in der klar wird, dass ein Paar auf Vergeltung für Fahrerflucht und Unfall-Tod ihrer Tochter verzichtet, wurde von auffallend vielen Kritikern als unglaubwürdig beanstandet.

Ich weiß. Ich war auch gespannt, wie die Zuschauer dem begegnen würden und war dann erstaunt, wie viele Leute darauf aggressiv reagierten. Es kitschig fanden, ärgerlich oder missionarisch. Ich fand es interessant, dass man so aufbegehrt gegen das einfache und schöne Konzept der Gnade. Ich dachte, dass das Kino dafür da ist, alternative Weltentwürfe zu zeigen. Vergebung ist eine Möglichkeit und Menschen sind dazu absolut in der Lage.

Was könnte der Grund für diesen Widerstand gegen dieses versöhnliche Fazit Ihres Films sein?

Die Wahrheit ist in der Tat, dass generell kaum Vergebung geübt wird. In allen Konflikt-Brennpunkten der Welt funktioniert genau dieses Prinzip nicht. Es geht immer nur um Rache und deshalb geht die Spirale immer weiter. Und deswegen ist dieses Ende eine Wunschvorstellung.

Ein Wunsch, der aber tatsächlich viel Glauben an das Gute im Menschen abverlangt. Bei so etwas Existenziellem wie dem Verlust eines Kindes, ist es schwer zu glauben, dass sich die Eltern zu Komplizen der Täter machen.

Ich habe mich immer gefragt: 'Was wäre denn die Alternative?' Die bestünde darin, dass sie sie an die Polizei verraten würden. Dann würde eine andere Familie kaputtgehen, in der ja auch ein Kind existiert. Dies nicht zu wollen, nennt man Mitgefühl.

Sühnelose Verarbeitung von Schuld durchdringt aber den ganzen Film. Erst durch eine schwere Verfehlung findet das Ehepaar, um das es in der Hauptsache geht, wieder zusammen. Es wird für das Begehen von Unrecht gewissermaßen belohnt.

Ich sehe das eher so, dass die Protagonisten durch den Unfall nicht mehr so gut in der Lage sind, vor einander wegzulaufen. Davor hat man das Gefühl, die Familie existiert gar nicht mehr als Familie, sondern jeder ist für sich und jeder läuft davon. Er in sein Fremdgehen, der Junge in seinen Computer und sie in ihr Gutmenschentum als Schwester im Sterbehospiz.

"Ohne Leiden geht's nicht"

Regisseur Glasner über Vergebung: Das Ringen mit dem Dämonen: Jürgen Vogel stellt in "Der freie Wille" von Matthias Glasner einen Mann dar, der seinen Sexualtrieb nicht unter Kontrolle hat.

Das Ringen mit dem Dämonen: Jürgen Vogel stellt in "Der freie Wille" von Matthias Glasner einen Mann dar, der seinen Sexualtrieb nicht unter Kontrolle hat.

(Foto: StudioCanal Deutschland)

Sie kreieren eine Situation, die sogar für eine intakte Familie eine extreme Belastungssituation darstellen würde. Die Familie, die sie zeigen, ist hingegen angeschlagen, aber durch den Schicksalsschlag wendet sich alles zum Besseren. Ist das realistisch?

Das ist eine denkbare Konsequenz. Denn durch das, was da passiert, ist jeder von ihnen gezwungen, bei sich selbst ein bisschen genauer hinzuschauen. Wenn wir weniger in den Projektionen leben würden, von dem, was wir gerne wären, dann wären wir auch besser in der Lage, sozial miteinander zu funktionieren.

Die Protagonisten in Ihrem Film erhalten immer erst eine Chance durch das Leid der anderen. Kann der Mensch nicht auch eine Chance durch sich selbst bekommen?

Ich glaube, ohne Leiden geht's nicht. Ich habe das Gefühl, dass wir immer nur in Gegensatzpaaren funktionieren. Wir können das Schöne nur im Gegensatz zum Hässlichen sehen und wir können das Gute nur im Gegensatz zum Bösen tun. Wenn wir nicht selber durch das Leiden gehen, dann können wir auch nicht das Leiden in anderen sehen.

Das klingt nach einer sehr pessimistischen Weltsicht.

Bei Menschen, die scheinbar locker, leicht durch das Leben gehen, fällt mir immer auf, dass die wahnsinnig empathieunfähig sind. Und kolossal angestrengt. Wenn irgendwo Leiden ist - das halten sie das eigentlich nicht aus. Und ich weiß von mir selbst, dass durch die Phasen des Leidens, der Schwermut und der Schuldgefühle, durch die ich in meinem Leben gegangen bin, ich überhaupt erst in der Lage war, das in anderen zu erkennen. Mehr Verständnis für sie zu haben und einfühlsamer auf sie reagieren zu können.

Wäre es nicht noch größer, zu vergeben, wenn man keinen Grund hat, etwas gutzumachen?

Alle Menschen sind schuldig. Mensch sein heißt schuldig werden. Und diejenigen, die das nicht anerkennen, nicht wissen, die neigen zur Selbstgerechtigkeit. Das sind die schlimmsten Menschen für mich.

"Gnade" und "Der freie Wille" ähneln sich in einem Punkt: Der Zuschauer soll Sympathie entwickeln für die Täter, in der "Der freie Wille" ist das ein Vergewaltiger. Den Opfern widmen sie wenig Aufmerksamkeit. Zeichnen Sie damit nicht ein zu einseitiges Bild?

Ganz allgemein interessieren mich Geschichten, in denen der Mensch mit sich selber ringt und nicht so sehr Geschichten, bei denen die Fehler bei der Gesellschaft gesucht werden, beim System oder beim anderen.

Wobei die Fehler schon bei den anderen liegen können. Gerade das deutsche Kino thematisiert die Gewaltherrschaften des Nationalsozialismus oder des DDR-Regimes nach wie vor häufig.

Das mag sein. Aber ich glaube, dass der Schlüssel häufig eher da liegt, wenn jemand mit seinen Dämonen ringt. Es ist also logisch, dass mich eher Täter- als Opfergeschichten interessieren. Und es stimmt, dass ich für all meine Hauptfiguren grundsätzlich Sympathien habe. Eben weil sie diesen Kampf kämpfen.

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